Iris Bartkiewicz* Die Rawlssche Theorie
meisten Benachteiligten favorisiert und die allen auch nach dem Einsetzen der Prinzipien zur Ordnung der Gesellschaft Informations- und Kontrollmöglichkeiten bietet.
Dieses Vorgehen, bei Unsicherheit der Situation diejenigen Prinzipien zu wählen, die die am meisten Benachteiligten begünstigt, nennt Rawls Maximin-Regel. Sie besagt folgendes:
Man„soll diejenigen‘ Alternativen „wählen, deren schlechtestmögliches Erbnis besser ist, als das jeder anderen“ (Rawls 1975, 178). Das Maximum minimorum lenkt die Aufmerksamkeit auf das Ungünstigste, was bei irgendeiner Handlung geschehen kann. Die Regel gebietet, die zu fällenden Entscheidungen in diesem Licht zu treffen. Somit muß die potentielle durchaus reale Zukunftsperspektive, behindert zu sein, auch das Maximum minimorum aufweisen, da sonst ein allgemeiner Konsens über die Prinzipien nicht gefunden werden kann.
Das Eigeninteresse der Vertragspartner führt in dieser Situation der Unsicherheit unter der Anwendung der MaximinRegel dazu, daß die Vertragspartner sich als die potentiell am meisten Benachteiligten sehen(Beckley 1985, 236).
Mit dem Bewußtsein, daß niemand die Ausstattung mit geistigen oder körperlichen Fähigkeiten verdient hat und sie ein Produkt des Zufalls ist, scheint es für jeden Beteiligten des Vertrags vernünftig, daß aufgrund seiner Fähigkeiten keiner bevorzugt oder benachteiligt werden darf:„So erscheint es als vernünftig und allgemein akzeptabel, daß durch die Wahl der Grundsätze niemand aufgrund natürlicher oder gesellschaftlicher Gegebenheiten bevorzugt oder benachteiligt werden sollte“(Rawls 1975, 36). Dies trifft selbstverständlich auch auf die Gruppe der geistig oder körperlich Behinderten wie der soziokulturell Benachteiligten zu.
Diese allgemeinen Vorbedingungen der Vertragssituation zeigen, daß die Behinderten bereits in die Prämissen der Vertragssituation, nämlich als Möglichkeiten menschlichen Daseins, einbezogen sind.
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG
Die Wahl der Prinzipien: Absicherung der Perspektive behindert zu sein
Vor allem das Eigeninteresse der Vertragspartner führt dazu, daß sie fürchten, z.B. in die Rolle eines Behinderten zu gelangen. Somit„werden sie sich gegen die Möglichkeit sichern wollen, daß ihre Fähigkeiten unentwickelt sind und sie ihre Interessen nicht vernünftig fördern können, wie etwa bei schwerer
Verletzung oder Geistesstörung(Rawls
1975, 281).
Zwei Prinzipien gehen also aus der Wahl
hervor:
— größte Freiheit für alle;
— Ungleichheiten sind nur erlaubt, wenn sie zum Nutzen der am meisten Benachteiligten sich auswirken und darüber hinaus Chancengleichheit herrscht.
Das erste Prinzip fordert, daß die Regeln, durch die die Grundfreiheiten festgelegt werden, für alle in gleicher Weise anzuwenden sind und für alle ein höchstes Maß an Freiheit ermöglichen. Zu einer Beschränkung der Freiheit wird die Unfähigkeit gezählt, von seinen Rechten(z.B. wegen Armut oder mangelnder Intelligenz) Gebrauch zu machen. Diese Einschränkungen betreffen den Wert der Freiheit, nicht die Freiheit selbst. Der Wert der Freiheit hängt davon ab, wie Personen oder Gruppen imstande sind, innerhalb des Prinzips der gleichen Freiheit für alle ihre Ziele zu verwirklichen. Das Problem eines Ausgleiches für geringere Freiheit stellt sich nicht.
Der Wert der Freiheit ist für einzelne
Personen unterschiedlich und hängt von
deren Fähigkeiten und Möglichkeiten
ab. Für bestimmte Personen(z.B. geistig
Behinderte) stellt die Freiheit einen
Wert dar, der ihnen grundsätzlich, wie
den anderen auch, garantiert wird, den
sie aber auf Grund ihres Defektes nie in Anspruch nehmen können. Die tatsächlichen Einschränkungen beeinträchtigen also den Wert der Freiheit nicht.
Ein Ausgleich erfolgt über das zweite
Gerechtigkeitsprinzip. Dieser Ausgleich
bezieht sich auf das Potential an Frei
heit, das der Behinderte nicht in An
Band XV, Heft 3, 1989
spruch nehmen kann. Das erste Prinzip bezieht sich auf alle Menschen, auch auf die Behinderten, selbst wenn sie nicht den vollen Umfang von Freiheiten in Anspruch nehmen bzw. nehmen können, so haben sie formal dennoch ein absolutes Anrecht darauf.
Eventuelle Ungleichheiten sollen durch das zweite Prinzip aufgehoben werden. Dieses zweite Prinzip gibt uns konkretere Anweisungen, wie Ungleichheiten, die ja, wie vorausgesetzt wurde, ein Produkt des Zufalls und daher völlig unverdient sind, zu behandeln wären: nämlich zum Vorteil der am meisten Benachteiligten. Damit stellt die Wahlsituation eine ursprüngliche Übereinkunft über Gerechtigkeitsprinzipien dar, die vom Standpunkt der Gruppe der am meisten Benachteiligten aus erstellt werden(Tittle 1975, 87).
Als am meisten Benachteiligte sind diejenigen zu verstehen, die entweder von Geburt aus weniger Fähigkeiten besitzen, aus einer ungünstigeren familiären Situation bzw. Klasse stammen oder einen ungünstigeren Lebensverlauf haben als andere.
Bezüglich der Erziehung und der Bildung und der darauf verwandten öffentlichen Mittel ist dieses Prinzip von großer Bedeutung(Porter 1975, 17). Die Frage ist nun, wie ein ‚Vorteil‘ der am meisten Benachteiligten erreicht werden kann.
Das sogenannte Ausgleichsprinzip sorgt für die Kompensation der hypothetischen Ungleichheiten(Porter 1975, 17). Dies hat auch zur Konsequenz, daß weniger Begabte mehr gefördert werden sollen als Begabte: Da„Ungleichheiten der Geburt und der natürlichen Gaben unverdient sind, müssen sie irgendwie ausgeglichen werden. Das Prinzip besagt also, wenn wirkliche Chancengleichheit herrschen soll, dann müsse die Gesellschaft sich mehr um diejenigen kümmern, die mit weniger natürlichen Gaben oder in weniger günstige gesellschaftliche Positionen geboren werden. Der Gedanke ist der, die zufälligen Unterschiede möglichst auszugleichen. Nach diesem Prinzip würde man vielleicht mehr für die Bildung der weniger Begabten als der Begabten aufwenden, jeden
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