Gebhard Theis* Krankenpädagogik
hues bildeten den Auftakt zu einer Reihe von Veröffentlichungen, in denen die psychosozialen Probleme kranker Kinder in den Vordergrund gerückt und eine Überschau über die gegenwärtige Lage erstellt wurde‘(1980, 517). Wienhues nennt hier zwei von drei zentralen Neuerungen der siebziger Jahre. Die erste ergab sich aus der Verlagerung der Tätigkeit der Körperbehindertenpädagogik in den außerklinischen Bereich. Körperbehinderten- und Krankenhausschulpädagogen hatten von nun an mit getrennten Schülergruppen in unterschiedlicher sozialer Umgebung und folglich mit unterschiedlichen Problemlagen zu tun. Die krankenhauspädagogische Diskussion der siebziger und achtziger Jahre ist daher von dem Bemühen geprägt, sich nach der praktischen Trennung auch inhaltlich und formal in Forschung und Lehre von der Körperbehindertenpädagogik abzulösen. Durch Verselbständigung der Krankenpädagogik soll einem Desiderat vorgebeugt werden, das von der sich fortentwickelnden Körperbehindertenpädagogik nicht gefüllt werden kann.
Zweitens richtete sich der Blick in den siebziger Jahren erstmals gezielt auf psychosoziale Fragestellungen, die durch eine Hospitalisierung aufgeworfen werden. Damit wurde zum Teil direkt, zum Teil indirekt an die Arbeiten vor allem angelsächsischer Psychologen, Mediziner und Pädagogen angeknüpft, die die psychischen Gefahren eines Klinikaufenthaltes für Kinder zum Teil seit den dreißiger Jahren erforscht hatten. Zu denken ist etwa an die Trennungsforschung von Rene A. Spitz(z.B. 1984), John Bowlby (z.B. 1976) und James Robertson(z.B. 1974) oder an Anna Freuds Schriften über die psychische Wirkung körperlicher Krankheiten und ihrer medizinischen Behandlung(z.B. 1977).
Die Diskussion über Ursachen und Erscheinungsformen des psychischen Hospitalismus wurde in der Bundesrepublik in nennenswertem Maße in den sechziger Jahren aufgegriffen und in Wissenschaft und Öffentlichkeit gebracht, und zwar zunächst von Ärzten und Psychoanalytikern, die sich als„Psychohygieniker“ verstanden(zur Entwicklung der
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Versuch einer Neubestimmung
Psychohygiene s. z.B. Biermann& Biermann 1982, 54ff.). Deren fast ausschließliche Aufmerksamkeit galt den Kleinkindern in der Klinik, die sie der größten seelischen Gefahr ausgesetzt glaubten.
Als ab den siebziger Jahren in Auswirkung der neuen gesetzlichen Regelungen über die Beschulung längerfristig erkrankter Kinder(zur Entwicklung der Gesetzeslage s. Wienhues 1979a, 95 ff.; Wienhues 1982b) auch die im Krankenhaus tätigen bundesdeutschen Pädagogen psychosoziale Fragestellungen thematisierten, rückten sie— als Schulpädagogen— wieder die besonderen Schwierigkeiten von Schulkindern und Jugendlichen in den Blick, die sie von den Psychohygienikern vernachlässig sahen(vgl. z.B. Wienhues 1979a, 200; Wienhues& Seifert 1980, 87; Wienhues 1983, 5). Ihr zentrales Medium zur pädagogischpraktischen Einlösung psychischer und sozialer Notwendigkeiten blieb der Unterricht, wenn auch unter starker Betonung seiner therapeutischen Funktionen (s. z.B. Reinhold 1979, 63; Wienhues 1983, 20 ff.). Die im Ausland erfolgreich erprobten Alternativen zur Krankenhausschule(s. z.B. Plank 1973; Plank 1981; Veeneklaas u.s. 1975) wurden hingegen kaum nutzbar gemacht, so daß der pädagogischen Betreuung von Säuglingen, Kleinkindern und Kurzzeitpatienten im Krankenhaus bis heute in der Praxis nur untergeordnete Bedeutung zukommt.
In der Entdeckung und der raschen Etablierung des Ausdrucks„Krankenpädagogik‘“ sehe ich die dritte wichtige Neuerung der dritten Phase der mit hospitalisierten Kindern und Jugendlichen betrauten Pädagogik.
Das Auftauchen des Ausdrucks ‚„Krankenpädagogik““
„Krankenpädagogik“ fiel erstmals 1978 innerhalb einer in der„Zeitschrift für Heilpädagogik‘ geführten Diskussion über die Verselbständigung der Krankenhausschulen und die Vereinheitlichung der Ausbildungsbedingungen für Krankenhauslehrer. Lichtenberger beginnt sei
nen direkt an einen Aufsatz von Seifert, Hilscher& Wienhues(1977) und an eine Erwiderung von Gratzer& Krisemendt (1978) anknüpfenden Beitrag mit dem Satz:„Gratzer und Krisemendt haben in ihrem Beitrag das Problem der Krankenpädagogik, wie es von Seifert, Hilscher und Wienhues aufgezeigt wird, unvollständig interpretiert“(1978, 636). Schon dieses Zitat und der umrissene Kontext verdeutlichen, daß„Krankenpädagogik“ von Lichtenberger ohne explizite Begründung zur Benennung des in der Diskussion verhandelten Problems herangezogen wurde. Die ersten inhaltlichen Zuschreibungen sind also nicht das Ergebnis einer Begriffsanalyse und-diskussion— dazu hätte von der Frage „Was ist ‚Krankenpädagogik‘?‘“ ausgegangen werden müssen. Sie sind auch nicht aus der Beantwortung der Frage „Wie können wir einen mehr oder weniger abgegrenzten Gegenstand, nämlich unser Problemfeld, bezeichnen?‘ hervorgegangen. Offensichtlich wurden statt dessen Problemfeld und Wort zusammengebracht, ohne diesen Vorgang selbst zu thematisieren; Lichtenberger blieb auch in diesem Akt auf der ursprünglichen Reflexionsebene.
Die weitere Verwendung von„Krankenpädagogik““
Wienhues erkannte das Versäumnis und reagierte:„Nun steht das Wort im Raum. ‚Krankenpädagogik‘, in den vorausgehenden Diskussionsbeiträgen... unbeabsichtigt oder bewußt vermieden, wird von Lichtenberger als konstituierend für einen Großteil der Problematik der Schule für Kranke dargestellt‘‘(1979b, 10).
Wienhues’ nachträgliche Versuche,„für das ‚wissenschaftliche Novum der Krankenhauspädagogik*(Lichtenberger 1978, 636) einen ‚Ort‘ im Bereich der Pädagogik zu suchen‘(ebd. Wienhues meint hier„Krankenpädagogik‘“ und nicht„Krankenhauspädagogik‘“. An der von Wienhues zitierten Stelle spricht Lichtenberger nämlich von dem„wissenschaftlichen Novum der Krankenpädagogik‘‘, und Wienhues verwendet im weiteren Verlauf seines Aufsatzes eben
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XV, Heft 3, 1989