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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Gebhard Theis*

Krankenpädagogik Versuch einer Neubestimmung

falls stetsKrankenpädagogik; d.V.) und den Bedeutungsgehalt des Begriffs zu hinterfragen, stießen kaum auf Reso­nanz; seine Anregungen zur anthropolo­gischen Grundlegung der Krankenpäd­agogik(1979a, 11ff.; 1979b, 12f.; 1985) etwa wurden meines Wissens we­der von Krankenhausschul- noch von an­deren Pädagogen in der Literatur aufge­griffen und weiterentwickelt. Bis heute hat sich deshalb nichts Wesentliches an der ursprünglichen, implizit von Lich­tenberger vorgenommenen Abgrenzung derKrankenpädagogik geändert. Trotz oder gerade wegen des konstatier­ten metatheoretischen Diskussionsdefi­zits fandKrankenpädagogik als un­scharfer Oberbegriff etwa für ‚Sonder­schulpädagogik im Krankenhaus sehr rasch dauerhafte und breite Verwen­dung. Bezeichnenderweise wurden z.B. dieVorträge und Berichte vom ersten Arbeitstreffen der Krankenhauslehrer Deutschlands beim Wangener Sympo­sium 1981 unter dem TitelBestands­aufnahme in der Krankenpädagogik (Friemelt 1982) herausgegeben. Eine relativierende Ausnahme macht auch hier Wienhues, der eine von ihm heraus­gegebene ReiheKrankenpädagogik (Schindele-Verlag Rheinstetten) unterti­telte alsBeiträge zur pädagogischen und psychosozialen Rehabilitation Kran­ker(1979a), den Begriff also weiter als üblich faßte, und innerhalb der Reihe Beiträge zur Krankenpädagogik(Re­ha-Verlag Bonn) ein Buch veröffentlich­te, das das weite Spektrum pädagogi­scher Möglichkeiten der psychosozialen Betreuung von Krankenhauspatienten abdeckt(1982a). Es läßt sich jedoch nachweisen, daß in der Literatur insge­samt die eng gefaßte Begriffszuschrei­bung auf einen meist stillen Konsens trifft. Auch Wienhues selbst setzt den von ihm vorgeschlagenen und im Umriß entworfenen sonderpädagogischen Stu­diengang der FachrichtungSonderer­ziehung und Rehabilitation Kranker mitKrankenpädagogik gleich, und er schreibt ihm dabei als zentrale Aufgabe die Ausbildung der in der Klinik tätigen Lehrer zu(1982c).

Als weitere Belege des hier nur exempla­risch darstellbaren Einvernehmens kön­

HEILPÄ DAGOGISCHE FORSCHUNG

nen auch die Einrichtung eines Bundes­referats und von Länderreferatenfür Krankenpädagogik durch denVer­band Deutscher Sonderschulen e.V. und die Darbietung einer Definition von Krankenpädagogik* durch die Bundes­referentin Johanna Maria Lange ange­führt werden. Diese einzige in der Lite­ratur auffindbare explizite Definition selbst erscheint noch relativ weit:Kran­kenpädagogik ist eine prophylaktische Sonderpädagogik, die der Prävention, der Rehabilitation und der Reintegra­tion(kranker Kinder und Jugendlicher) dient durch rechtzeitig einsetzende indi­viduelle patientenorientierte pädagogi­sche Maßnahmen unter Einbeziehung der Umfelder Krankenhaus, Familie und Heimschule(1982, 147; 1983, 194. Der v. V. eingeklammerte Text findet sich nur in der jüngeren Version). Lan­ges Erläuterungen zeigen jedoch deut­lich, daß Sonderpädagogik mit Sonder­schulpädagogik gleichgesetzt wird, daß also mitKrankenpädagogik eine Kran­kenhaus-Schulpädagogik gemeint ist: Lange stellt ihre Definition in direkten Bezug zum Beschluß der Konferenz der Kultusminister der Länder vom 5.12.68 Schulische Betreuung von Kindern in Krankenhaus-Sonderschulen, in der Bildung und Erziehung kranker Schüler als wichtige Aufgabe deklariert werden (1982, 147), sie beschränkt folgerichtig die Gruppe der Betroffenen aufSchü­lerpatienten(1983, 194) und stellt Zie­le und Methoden des Unterrichts in der Klinik in den Mittelpunkt ihrer Überle­gungen, wenn auch unter Beachtung der psychischen und psychosozialen Beein­trächtigungen(ebd.) und der Umfeldar­beit(1983, 195):Das Ziel dieses unter sonderpädagogischen Aspekten aufge­stellten Förderkonzeptes ist, den Schü­ler nach Möglichkeit so zu unterrichten, daß er den Anschluß an den Unterrichts­stoff seiner Klasse in den versetzungsre­levanten Fächern erreicht(1983, 194).

Bund XV, Heft 3, 1989

Zusammenfassende Kritik des heutigen Verständnisses vonKrankenpädagogik

Gegenstand und Praxisfeld

Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß heute der krankenpädagogische Ge­genstand fast ausschließlich auf die Si­tuation hospitalisierter Schüler und daß die krankenpädagogische Praxis entspre­chend auf sonderpädagogisch-unterricht­liche Hilfestellungen im Krankenhaus beschränkt wird.

Die sich hierin spiegelnde Verengung des Begriffsverständnisses ist unbegründet: Krankenpädagogik weist dem so be­zeichneten pädagogischen Spezialgebiet als Gegenstand den kranken Menschen und den Menschen als Kranken zu; eine weitere Einschränkung geht semantisch aus dem Wort nicht hervor. Krankheit jedoch spielt sich nicht nur im Kranken­haus, sondern im gesamten gesellschaft ­lichen Rahmen ab. Von dieser Kritik un­benommen bleibt die schon historisch ausreichend gerechtfertigte vorläufige Beschränkung einer pädagogischen Spe­zialdisziplin auf die Gruppe hospitali­sierter Schulkinder und Jugendlicher. Deshalb zurück zur Begrifflichkeit. Wien­hues selbst thematisiert mehrfach Krank­heit als anthropologische Grundqualität des Menschen(1979a, 11ff.; 1979b; 1985) und liefert damit Argumente für eine erweiterte Fassung des zu betrach­tenden Personenkreises und somit des Gegenstandes. Hier soll seine Argumen­tationslinie zwar nicht weiter verfolgt, jedoch exemplarisch ansatzweise wieder­gegeben werden. In der oben erwähnten Erwiderung auf Lichtenberger entwik­kelt Wienhues folgende These:Eine wissenschaftliche Grundlegung der Kran­kenpädagogik könnte durch eine ‚An­thropologie des kranken Menschen er­folgen... Da akute Krankheit als tem­porär limitierter Sonderstatus nicht auf besondere gesellschaftliche Gruppen be­schränkt ist, müssen ihre Auswirkungen eigentlich von jeder pädagogischen An­thropologie berücksichtigt werden. Eine Anlehnung an eine behindertenpädago­gische Anthropologie oder an die einer sonderpädagogischen Teildisziplin er­

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