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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Gebhard Theis* Krankenpädagogik

Versuch einer Neubestimmung

scheint von daher bedenklich, die direk­te Anbindung an eine allgemeine päd­agogische Anthropologie besser zu sein. 3. Krankenpädagogik kann keine neue Pädagogik sein. Sie bedeutet lediglich ei­ne neue Akzentuierung pädagogischer Bemühungen(1979b, 11). Die Anbin­dung an eine allgemeine pädagogische Anthropologie schließt selbstverständ­lich nicht die Fassung der Krankenpäd­agogik als sonderpädagogische Disziplin aus.

Wissenschaftssystematische Probleme

Ebenso problematisch wie die Begren­zung des Gegenstandes der Krankenpäd­agogik stellt sich ihre Einordnung in die Pädagogik dar. Die heute übliche paralle­le Einreihung in die Gruppe der aner­kannten sonderpädagogischen Fachrich­tungen kann durchaus durch die beson­dere, weil auf das Kranksein des Men­schen gerichtete pädagogische Perspek­tive als auch durch dentemporär limi­tierten Sonderstatus des akut Erkrank­ten(Wienhues 1979b, 11) grerechtfer­tigt werden. Diese Vorgehensweise birgt allerdings so lange Gefahren, wie Son­derpädagogik über die dauerhaft ein­grenzbare gesellschaftliche Gruppe oder gar Institution und eben nicht über eine besonders beachtete Qualität des Men­schen definiert und auf schulpädagogi­sche Elemente beschränkt wird; Kran­kenpädagogik als Sonderpädagogik kann sich nämlich dann nur schwer von der Gleichsetzung mit Schulpädagogik für Hospitalisierte befreien.

Ansätze zu einem neuen Verständnis von Krankenpädagogik

Als erste, weitere Defizite nach sich zie­hende Unzulänglichkeit des heutigen Verständnisses vonKrankenpädagogik wurde eine zu starke Verengung des praktischen Tätigkeitsfeldes und mithin des zu erforschenden Gegenstandes kon­statiert. Deshalb wird hierKranken­

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pädagogik über einen erweiterten Ge­genstand definiert. Dieser soll sozialwis­senschaftlich faßbar und daher mit kri­tischerziehungswissenschaftlichen Me­thoden theoretisch erforschbar und prak­tisch veränderbar sein.

Krankenpädagogik ihre Definition über einen erweiterten Gegenstand

Krankenpädagogik als Teilgebiet der Pädagogik und Erziehungswissenschaft beschäftigt sich mit Individuen und so­zialen Feldern unter der Perspektive von Krankheit. Spezifische Aspekte sind Vorstellungen, Ursachen und Formen der Produktion und der Bewältigung sowie Folgen von Krankheit.

Es bleibt zunächst festzuhalten, daß wie oben gefordert der spezifisch kran­kenpädagogische Blick nicht institutio­nell oder über eine bestimmte Gruppe eingegrenzt wird, sondern über die kör­perliche, psychische und soziale Existenz der Krankheit. Es muß nicht anthropo­logisch argumentiert werden, um die Einbeziehung aller Menschen zu fordern; der empirische Befund der Betroffenheit aller reicht dazu aus.

Auch auf die Eingrenzung über einen festgelegten Krankheitsbegriff etwa durch Neuformulierung eines pädagogi­schen oder Übernahme des medizini­schen wird verzichtet. Statt dessen stel­len die relevanten Krankheitsvorstellun­gen selbst Aspekte des Gegenstandes dar. Sie stehen in einer dynamischen Wech­selbeziehung und wandeln sich im histo­rischsozialen Prozeß. Je nach For­schungsschwerpunkt und äquivalentem Praxisfeld müssen unterschiedliche und zum Teil gegensätzliche Krankheitsvor­stellungen offengelegt und in ihrer Be­dingtheit und Funktion analysiert wer­den.

Eine grobe Zielorientierung

Dieser Verzicht auf einen bestimmten Krankheitsbegriff trennt die Kranken­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG

pädagogik schon im Ansatz von der Ge­sundheitserziehung, die sich am medizi­nischen Modell als zentralem Fixpunkt orientiert und in der Konsequenz sozia­les Handeln statisch und wertend zu die­sem in Beziehung setzt: Sie geht davon aus, daß Gesundheit sein soll und daß von der Medizin definierte Krankheiten verhindert werden müssen(indem sie derart nicht hinterfragte Setzungen vor­nimmt, verhält sie sich normativ im Sin­ne Klauers(1973, 106 ff.)); und sie gibt auf der Basis dieser Prämissen präskrip­tiv(Klauer 1973, 83 ff.) Verhaltensre­geln.

Die Krankenpädagogik hingegen stellt den sinnhaften Krankheitsbegriff des In­dividuums nicht in Frage, sie setzt viel­mehr an den sozio- und psychodynami­schen Bezügen des einzelnen, seines Krankheitsbegriffs und seiner Krankheit an; weiterhin geht es ihr nicht um das Ziel eines gesundheitsgerechten Verhal­tens in welchem Sinne auch immer, sondern um Erreichung von Emanzipa­tion. Dieser wichtige Leitbegriff der Kri­tischen Erziehungswissenschaft(Näheres zum Begriff der Emanzipation s. Schal­ler 1974, 56 ff.; Lenzen& Mollenhauer 1983, 376 ff.) meint hier konkret Eman­zipation von Herrschaft über die Krank­heit als eine Variante der Herrschaft über den Körper und den ganzen Men­schen. Sie kann sowohl Emanzipation von Krankheit als auch Emanzipation vom Zwang zur Gesundheit und von Ge­sundheit bedeuten. Positiv kann als prak­tisches, selbstverständlich nie ganz ein­lösbares Ziel die Autonomie über die Krankheit(und Gesundheit) formuliert werden.

Die Fremdbestimmung über den(poten­tiell) kranken Menschen zeigt sich etwa darin ‚daß Begriff, Diagnose und Behand­lung von Krankheit der Medizin überlas­sen oder gar an diese delegiert werden (vgl. Theis 1987a), daß Krankheiten durch schlechte Arbeits- und Lebensbe­dingungen produziert werden oder daß bei Krankheit gesellschaftliche Benach­teiligung einsetzt. Krankenpädagogik strebt die Überwindung dieses Zustan­des an: Die einzelnen und die betroffe­nen Gruppen sollen so gesund wie mög­lich sein können und krank sein dürfen,

Band XV, Heft 3, 1989