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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Holger Probst ­

v. Bracken: Ich habe ihn sehr verehrt. Ich wußte, er ist ein sehr großer Geist und auch ein sehr guter, großartiger Cha­rakter. Er hätte nie etwas gesagt, was er nicht verantworten konnte. Gelogen oder so Ausflüchte kannte er nicht und über jemanden schlecht sprechen, das hat er nicht gemacht. Er hat auch gesagt, ich bin froh über jedes Geheimnis, das ich nicht weiß. Das war sein Spruch. Das war manchmal ein bißchen feige. Ich bin ja mehr ein donnernder Typ. Das hat uns dann ja manchmal ein biß­chen Schwierigkeiten gebracht. Er ver­schimpfte mich deswegen auch.

PALASTREVOLTE

Probst: Frau v. Bracken, ich bin 1970 in das Institut eingetreten...

v. Bracken: Mit Ihnen hatte er auch Schwierigkeiten. Ja, am Anfang hieß es, Sie wären auch gegen ihn; Sie seien mehr auf der linken Seite.

Probst: Das stimmt sicherlich. Ich hat­te zwar nichts gegen Ihren Mann, auch weil ich direkt nie mit ihm zu tun hatte, aber ich habe eher mit den Revoluzzern geliebäugelt. Der konkrete Konflikt war aber vorbei, als ich im April 1970 ins Institut eintrat. Da war Ihr Mann end­gültig im Ruhestand.

Hat ihr Mann sich zu der Zeit selber als persona non grata empfunden, also als nicht mehr gemocht bzw. geschätzt. Wie hat er sich in dieser Zeit gefühlt? Er hat ja als Emeritus noch 14 Jahre lang im Institut seinen Einsitz gehabt. Ich habe mein Dienstzimmer 1975 be­zogen und da begegnete ich ihrem Mann jahrelang morgens beim Teekochen auf dem Flur. Wir waren freundlich mitein­ander. Ich habe ihn gern gemocht und sehr geschätzt. Wenn er seine Zigarren rauchte, in seinem dunklen Dienstzim­mer mit schweren Möbeln darin und großen Bücherstößen! Die Bücher sta­pelten sich in dieser Höhe auf seinem Rauchtisch. Aus jedem Buch schaute ein Büschel Zettel heraus. Und jeder Stapel war ein Buchprojekt oder etwas, was er noch aufarbeiten mußte. Das war ein­druckvoll.

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v. Bracken: Ja, er lebte in und mit der Wissenschaft. Die dienstliche und menschliche Seite konnte er gut tren­nen.

Probst: Er ist sehr schnell nach dem Konflikt um die Institutssatzung, die es 1969 gab zurückgetreten, praktisch zwei Tage danach.

v. Bracken: Ja, er war dann ziemlich beleidigt. Er sah die wissenschaftliche Arbeit an erster Stelle. Hier gab es schon die Drittelparität in der Institutsver­sammlung. Es wurden großartige Ab­stimmungen abgehalten und eben Wah­len usw. und er hat gesagt: Er habe nicht so viel Zeit, um hier immer herum­zusitzen, er möchte arbeiten. Daraufhin hat man ihm das übel genommen, und gesagt:Gut, dann streiken wir! Dar­auf antwortete er:Und wenn Sie strei­ken, dann nehme ich Hut und Mantel und gehe! Das ist dann ja auch gesche­hen.

Probst: Ja, er hat das sehr konsequent getan. Seine Veranstaltungen abgebro­chen, seine Ämter niedergelegt. Es war ein abrupter Schluß.

v. Bracken: Und was ich nie konnte, er hat es niemanden nachgetragen. Denn er ist sehr vielen Leuten begegnet, die ihm ein Bein gestellt haben.

MAX KIRMSSE

Was ich auch nicht gut fand: er hatte ja aus Idstein eine Bibliothek bekommen, von Max Kirmsse, das war etwas ganz Besonderes; das hat man sonst nirgend­wo anders bekommen können; diese Bü­Cher konnte man nicht mehr nachbestel­len, jedoch die Studenten haben ziem­lich geaast. Man sagte, die Bibliothek ist für die Studenten da, sie müsse im­mer zugänglich sein. Die Studenten sind einfach an die Bücher gegangen und nahmen mit, was man wollte. Da ver­schwanden viele Bücher.

Probst: Wie war das mit der Kirmsse­Bibliothek? Wie kam die an Ihren Mann? Wir hatten neulich eine Anfrage von einem Bibliotheksgeschichtler aus Ber­

Gespräch mit Frau Karola v. Bracken über den Begründer der HEILPÄDAGOGISCHEN FORSCHUNG

lin, der wissen wollte, wie wir an diesen Nachlaß gekommen sind.

v. Bracken: Die Witwe von Max Kirmsse hatte meinen Mann eben gebe­ten, seine Bibliothek zu übernehmen. Ob ihr Mann, sie beauftragt hatte, das weiß ich nicht. Er hat es auch gerne genommen. Er fuhr hin, schaute sich die Bibliothek an.

Probst: Kannte er Kirmsse, hatte er eine Beziehung zu Kirmsse?

v. Bracken: Ich weiß nun nicht genau, ob Herr Kirmsse Heilpädagoge

War...

Probst: Max Kirmsse hat viel zur Ge­schichte der Heilpädagogik veröffent­licht. Er starb 1946.

HERMANN STUTTE

Frau v. Bracken, Ihr Mann hatte Kon­takte zu Medizinern, er hatte auch zu Hermann Stutte Kontakt. Stutte war auch zum Lehrkörper des Instituts gehörig. Was war das für eine Kooperation zwi­schen den beiden Männern?

v. Bracken: Herr Stutte schätzte mei­nen Mann sehr. Ich war nicht so sehr über Stutte erfreut und habe meinem Mann oft in den Ohren gelegen. Er war einer, der so seine Wissenschaft von sich gab, mit Fremdwörtern um sich schmiß, was mein Mann nie gemacht hat. Er hat alles in deutsch gesagt. Und ich finde, wenn einer so ein großer Wissenschaft­ler ist, braucht er nicht mit Fremdwör­tern anzugeben.

Probst: Aber Ihr Mann hat dann ja Stutte geholfen, verständlich zu werden, indem er eine Übersetzungshilfe gelie­fert hat, nämlich das Fachwörterbuch für Kinder- und Jugendpsychiatrie von v. Bracken und Stutte.

Probst: Gab es eine gemeinsame Denk­richtung oder Interessen oder Sichtwei­sen dessen, was geschehen sollte zwi­schen Stutte und v. Bracken?

v. Bracken: Sie waren beide interes­siert, daß man in Deutschland die heil­pädagogische Arbeit aufbaut. Man hat

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XX, Heft 4, 1994

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