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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Holger Probst- Gespräch mit Frau Karola v. Bracken über den Begründer der HEILPÄDAGOGISCHEN FORSCHUNG

ja nachher dem Prof. Stutte nachgesagt, daß er Nazi gewesen ist. Das mag ja sein, aber er hat jedenfalls viel dafür getan, daß diesen Kindern geholfen wer­den konnte. In seiner psychiatrischen Klinik muß er gut gearbeitet haben.

Probst: Wußte Ihr Mann von der Funk­tion, die Stutte zur Zeit des Hitler-Fa­schismus innehatte?

v. Bracken: Ich glaube, Prof. Stutte war gerade gestorben, da sind ein paar Eng­länderinnen darauf gestoßen, daß Prof. Stutte früher ein Nazi gewesen ist. Die­se haben viel Propaganda gegen ihn ge­macht. Herr Metzker, der Rektor der Krankenhausschule, hat sich mit mei­nem Mann und anderen verbündet. Alle brachten eine Petition heraus, einen Wi­derruf und haben sich gegen die Vor­würfe verwahrt. Alle waren auf Prof. Stuttes Seite.

Probst: Aber behauptet wird ja inzwi­schen, daß Stutte Gutachter war, zustän­dig für die Entscheidung über die Steri­lisation Geistigbehinderter.

v. Bracken: Ich hatte so das Gefühl, daß mein Mann mehr aus den Kindern herausholen wollte; der Prof. Stutte hat­te ihm dann einen Dämpfer gegeben und meinte,Das geht da nicht, das ist un­nötig. Mein Mann meinte, wie ich auch später in meiner Arbeit mit den Kindern immer wieder feststellte, daß man aus jedem Kind irgendetwas herausholen kann. Man muß nur das richtige päda­gogische Geschick haben und eben die Geduld, die ja dazu erforderlich ist. Viel Zeit hat das gekostet, und ich habe mich in meiner Arbeit dafür stark gemacht.

Probst: Ja, das war in der Zeit, wo Sie intensive Einzelförderung der Kinder betrieben haben. Stuttes Position war eine andere?

v. Bracken: Ja, er war mehr für das Verwahren, Unterhalten, ein bißchen be­schäftigen, jedoch lernen? Nein! Er hat ja bei sich die Schule gehabt, aber da waren wahrscheinlich nicht nur geistig behinderte Kinder.

Probst: Die Klinikschule. Nein, das wa­ren zum Teil sehr kompetente und diffe­

renzierte Kinder, die psychische Proble­me hatten und während des Klinik­aufenthalts Unterricht brauchen. Das war wohl von der Intention, was mit den Kindern geschehen soll, ein gewisser Ge­gensatz. Trotzdem haben die beiden of­fenbar erfolgreich kooperiert.

v. Bracken: Mein Mann war einer, der immer ein bißchen von denen abgekratzt hat, von dem Berg. Wenn es Schwierig­keiten gab, dann hat er es nie in einem Anlauf genommen, er hat immer nur ein bißchen gekratzt. So allmählich kam er dahin, wo er hin wollte.

Probst: Er hat auch die kleinen Schrit­te geschätzt und einen langen Atem ge­habt.

ADOLESZENZ- DAS LEBEN

Was tat Ihr Mann eigentlich, bevor er die Lehrgänge zur Ausbildung von Sonderschullehrern übernahm?

v. Bracken: Er war in Jugenheim(der hessischen Asubildungstätte für Lehrer), er war Dozent für Psychologie. Und da­vor war er in Frankfurt in den Adler­Werken.

Probst: Adler stellte Nähmaschinen und Fahrräder her. Eine mechanische Fa­brik.

v. Bracken: Und Schreibmaschinen. Bevor mein Mann dahin gekommen ist, war er in Braunschweig Dozent an der Technischen Hochschule. Weil er in der SPD war, wurde er 1933 dort gefeuert. Er gehörte später zu denen, die das Godesberger Programm aufgestellt ha­ben. Und ich möchte noch ein bißchen zurückgehen. Mein Schwiegervater ge­hörte zu den Deutsch-Freundlichen, Deutsch-Treuen, er war kaisertreu. Mein Mann und sein Vater haben sich nie verstanden. Aus Protest ist mein Mann in die SPD gegangen, weil er sich mehr für die Arbeiter eingesetzt hatte. Mein Schwiegervater war ein Despot und Pfarrer und war sich seiner Stellung be­wußt.

Mein Mann ist von zu Hause ausgeris­sen, war dann bei den Wandervögeln und hat das als seine Aufgabe gesehen.

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XX, Heft 4, 1994

Er wanderte sehr gerne, das war auch ein Grund, weshalb er immer mit sei­nem Vater Schwierigkeiten hatte, weil er nicht so oft in die Kirche ging, son­dern wanderte. Er hat das Abitur ge­macht, das war im Ersten Weltkrieg. Er war 18 Jahre alt und kam danach wie­der nach Hause, mußte das tun, was der Vater wollte. Das hat er natürlich nicht mitgemacht. Deswegen konnte er auch manche Dinge verstehen, wenn die Stu­denten so rebelliert haben, weil er selber früher so einer war. Er ist dann zu den Wandervögeln gegangen und hat diese Sache zu seinem Beruf gemacht. Er wur­de dafür bezahlt, daß er die ganze Orga­nisation machte. Die hatten dann die Treffen; auch die weiblichen Mitglieder kamen dazu. Da hat er übrigens seine erste Frau kennengelernt.

Probst: Da war er 21 Jahre alt. Nach Ende des Weltkrieges hat er dann stu­diert.

v. Bracken: Ich weiß nicht, wie er nach Gera gekommen ist. Dort machte er dann die Lehrerausbildung. Medizin noch nicht, erst einmal die Lehrerausbildung. Dann heiratete er schon mit 22 Jahren. In Gera war eine Hilfsschule, dort wur­de er eingesetzt. Der Standort dieser Hilfsschule war, glaube ich, in einem Gefängnis. Die Öffentlichkeit sollte kei­nen Einblick nehmen können. Er er­zählte, wie sich alle Schüler an so ei­nem Strick festhalten mußten, damit sie unterwegs nicht abhanden kamen, wenn sie mal spazieren gingen. Hier machte er seine ersten Versuche, einen Versuch mit einer Droge.

Probst: War es das Präparat mit dem Düker forschte, eine Keimdrüsensalbe, ist das richtig?

v. Bracken: Nein, das Präparat hieß an­ders. Meskalin. Danach sagte mein Mann: Nie mehr! Das mußte furchtbar gewesen sein. Er hatte Halluzinationen. Von Gera ist mein Mann nachmittags nach Jena gefahren in die Universität. Morgens hielt er Schule, und mittags hat er Psychologie studiert. In Leipzig hat er auch studiert. Danach ist er dann an TH Braunschweig gekommen. Er war ja durch seine Arbeit als Hilfsschullehrer

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