Holger Probst
Gespräch mit Frau Karola v. Bracken über den Begründer der HEILPÄDAGOGISCHEN FORSCHUNG
schon für die Psychologie vorbereitet. An der Technischen Hochschule war er Dozent für Psychologie.
Probst: Sie sagten, Ihr Mann hat sich von seinem Vater abgewandt. War Ihr Mann religiös?
v. Bracken: Ja, mein Mann war religiös. Er hatte aber eine gewisse Opposition dem Vater gegenüber.
Probst: Und auch der Kirche gegenüber?
v. Bracken: Nein, er ging ja in die Kirche. Die Gottesdienste hier, die von Prof. Niebergall gehalten wurden, besuchte er. Er wollte aber in einem gewissen Sinne nicht so viel mit Gott zu tun haben; natürlich gab es für ihn ein Leben nach dem Tode; das sagte er, aber ansonsten war es für ihn kein Gesprächsthema. In Braunschweig hatte er schon eine Tochter, die war vier Jahre alt. Sie ist 1929 geboren. Es war 1933, da ist mein Mann in Braunschweig rausgeschmissen worden; er ist nach Holland gegangen und unterrichtete dort an einer deutschen Schule.
Probst: Er ist emigriert.
v. Bracken: Ja, er nahm seine Familie mit. In Holland merkte er, wie viele Menschen um ihr Leben bangen mußten, wenn sie in Deutschland geblieben wären, hauptsächlich Juden. Dann ist er von seiner Lehrerstelle zurückgetreten, um die Stelle freizumachen, für einen, der seines Lebens in Deutschland nicht mehr sicher war.
Er kehrte nach Deutschland zurück und begann Medizin zu studieren. Mit seinem Vater hatte er dann anscheinend wieder ein gutes Verhältnis.
DIE ELTERLICHE FAMILIE
Dieser Vater hatte noch vier Söhne, der erste ist schon im 1. Weltkrieg gefallen und wurde meinen Mann als Vorbild hingestellt.
Probst: Was taten Ihre Schwager? v. Bracken: Der eine war Abiturient und ist in Polen totgetreten worden. Der
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war ein junger Mann und wollte ganz enthusiastisch mitmachen. Es war eigentlich schon nach dem Krieg, 1918 wie noch dieser große Aufstand in Polen war, wo viele Deutsche einfach niedergemetzelt worden sind. Der nächste war Theologe, hätte gerne Musik studiert: Ein anderer war Doktor der Botanik, der jüngste war im Obstbau beschäftigt. Sie haben alle ihren Doktor gemacht. Zwei sind gefallen.
Probst: So sehr hat der Vater den Söhnen also nicht geschadet, er hat sie wohl auch gefördert.
v. Bracken: Da hat mein Schwiegervater seine ersten pädagogischen Versuche beim ältesten Sohn wohl als Fehler eingesehen und stellte sich um, denn mit den anderen Söhnen ist er anders verfahren.
Probst: Er hat Ihren Mann sehr streng erzogen.
v. Bracken: Ja, er hat ihn richtig gezwiebelt. Mein Mann durfte sich z.B. niemals morgens mit warmem Wasser waschen. Es gab keine Heizung. Es wurde kein Wasser auf den Ofen aufgesetzt, bei kaltem Winter und morgens war sein Wasser oft gefroren. Dann ist er raus und wusch sich mit Schnee. Und mußte dann auch in diesem kalten Zimmer studieren. Deswegen hat mein Mann auch sehr wahrscheinlich nicht so gut Reden halten können.
Probst: Oh, wie sehen Sie diese Zusammenhänge?
v. Bracken: Mein Mann konnte nicht reden. Schriftlich war er hervorragend, aber reden konnte er nicht. Er hat immer ‚öff‘ gesagt, hat sich immer stotternd vorwärts bewegt. Ich habe ihm dann manchmal Sprach- bzw. Sprechunterricht gegeben. Aber na ja, es war dann doch schwierig, weil er nicht viel Zeit hatte.
Probst: Wie setzen Sie das in Verbindung zu seinem Elternhaus?
v. Bracken: Ja, er war immer allein, er war einsam, er wurde immer als der Große hingestellt, war auch ein wirkliches Genie in der Schule. Die Brüder,
die später an dieses Gymnasium gegangen sind, wurden daraufhin angesprochen, ‚Ach, Sie sind auch ein v. Bracken, dann sind sie ja gescheit‘. Das Abitur bestand er hervorragend, das Mündliche brauchte er gar nicht machen, er überhüpfte auch ein Jahr. Er war schon ein Genie.
Probst: Er war ein Eisbrecher für die Brüder, die nach ihm kamen. Wissen Sie etwas über seine Kriegerlebnisse?
v. Bracken: Ja, die müssen sehr schlimm gewesen sein, im Ersten Weltkrieg, als junger Mensch. Er war gegen das Töten. Er wollte niemandem etwas tun, im Gegenteil, und er war auch sehr empfindsam. Im Krieg war er ein oder zwei Jahre. 1899 wurde er geboren, 1914 fing der Krieg an, mit 16/17 Jahren wurde er einberufen. Er war bei der Marine. Später im 2. Weltkrieg ist er auch bei der Marine gewesen. Dort war er Oberstabsarzt. Im ersten Weltkrieg war er einfacher Matrose, hatte gerade das Abitur. Die Mutter hatte die vielen Kinder und hatte als Pfarrersfrau auch andere Verpflichtungen. Er hatte eigentlich niemanden, der ihn in den Arm nahm, das vermißte er auch sehr.
Weil er eben so lange alleine war, hat nur mit sich selber gesprochen. Konnte mit anderen einfach nicht so Kontakte bekommen.
In der Schule wurde er„crassus“(lat. der Dicke) genannt. Er war kräftig und man hat ihn auch früher, meiner Meinung nach, zu gut genährt.
Probst: Aber sehr groß war er ja nicht. v. Bracken: Nein, nein, er war der Kleinste.
HEINRICH DÜKER
Probst: Ich würde gerne noch einmal einen Punkt aufgreifen, seine SPDMitgliedsschaft und die Bekanntschaft und Kollegialität zu Heinrich Düker.
v. Bracken: Die Beiden haben sich ja durch die Partei gefunden. Aber Düker war schärfer. Mein Mann hatte manchmal der SPD nicht so beigepflichtet. Es war für ihn, wie ich so mitbekommen
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XX, Heft 4, 1994