Holger Probst
KAROLA v. BRACKEN
v. Bracken: Ich wollte ja Sängerin werden, aber das durfte ich damals nicht. Ich war in Mannheim an der Musikhochschule und habe da studiert, da kam dann der Schulrat auf die Idee, mich im Vogelsberg einzusetzen. Ich habe gesagt: ‚Herr Schulrat, ich bin doch in Mannheim an der Musikhochschule‘. Und da hat er gesagt: ‚Wenn Sie nur mal später Kinderlieder singen können, langt das‘ und hat mich in den Vogelsberg verfrachtet. Da war es aus. Ich wollte Opernsängern werden. Im Vogelsberg habe ich dann viele Dorfgemeinschaftsabende gegeben und konnte viel Geld damit verdienen. Nicht für mich, immer nur für wohltätige Zwecke. Dazu sind die Leute von allen möglichen Ortschaften gekommen und wollten mich singen hören. Ich hatte früher eine schöne Stimme, und wissen Sie warum? Ich war als einziges Mädchen geboren unter lauter Jungens, mein Vater mochte keine Mädchen und meine Mutter hatte immer ein schlechtes Gewissen, daß da doch ein Mädchen zwischen lauter Jungen war. Darausfolgend wuchs ich nicht gerade selbstsicher auf. Ich wurde immer untergebuttert, war die Minna für alle. Ich mußte mithelfen, wie z.B. Wäsche auf dem Boden aufhängen oder Kohlen im Keller holen, dadurch konnte ich mich stundenlang rarmachen und habe gesungen. Irgendwie ist mein Mann so ähnlich erzogen worden wie ich. Mein Vater mochte mich nicht. Er schimpfte über mich. Ich war dreimal verlobt, er hat diese Beziehungen alle kaputtgemacht. ‚Du brauchst nicht zu heiraten, Du hast ja einen Beruf‘.
Probst: Ach, das war auch der Grund Ihrer relativ späten Heirat?
v. Bracken: Ich war öfter verlobt, ich sah auch gar nicht schlecht aus. Ich war nicht häßlich, ich hatte viele Verehrer. Ich habe sie meistens in die Hecke reingeschmissen. Ich mochte mit Gleichaltrigen nichts zu tun haben. Da hatte ich ja nun vier Brüder. Ich war immer alleine und mittendrin. Ich mußte mich gegen die Jungen verteidigen. Ich konnte Jiu-Jitsu, ich konnte Motorradfahren, ich
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habe mir alles erlaubt, was meine Bruder sich nicht gewagt haben.
Probst: Sie sind jetzt 72 Jahre. Wie wird Ihr Leben weitergehen?
v. Bracken: Ich komme mir zu jung vor für dieses ‚Altenheim‘. Ich bin eine von den Jüngsten, nicht meinem Alter entsprechend, aber meiner Mentalität. Im April werde ich 73 Jahre.
Übrigens: Mein Mann hat zum Ende zu sehr nett von Ihnen gesprochen. Sie hatten ihn 1983 eingeladen zu Ihrer Hochzeit. Mein Mann sollte in der Klinik auf Parkinson eingestellt werden und sie haben ihm zuviel Pravidel gegeben. Hier hatte er einen furchtbaren Gewichtsverlust, 30 Pfund weniger in 10 Tagen, und er war geistig vollkommen weggetreten. Er hatte sich nie mehr so richtig erholt, er war jetzt 83, und er hat Ihre Einladung verschwitzt. Er war so durcheinander, das war so furchtbar danach: ‚Hilf mir mal aufräumen‘. Er hatte nämlich immer diese Zettelwirtschaft. Ich mußte ihm suchen helfen und habe auch immer wieder alles gefunden. Auch Ihre Einladung, die er durch diese Zettelwirtschaft verlegt hatte.
Probst: Ja, das wäre ein schöner Abschluß der Bekanntschaft gewesen. Ich erinnere mich an folgende Szene: 1976, am Tag nach meiner Ernennung zum Professor trafen wir uns am Morgen wieder beim Teekochen auf dem Flur. Ich: „Guten Tag, Herr v. Bracken“, Er: ‚Guten Tag, Herr Probst, oh Verzeihung: Herr KOLLEGE Probst!‘ Das war nach seinem comment die Aufnahme in den Kreis der Professoren.
v. Bracken: Und Sie haben wahrscheinlich Verschiedenes veröffentlicht. Das hat ihn immer sehr beeindruckt. Ich glaube der Herr Kasztantowicz hat wenig veröffentlicht. Der hat mehr den Sitzstreik gemacht.
Probst: Vielleicht passe ich in diese Linie, die Ihr Mann eröffnet hat, ganz gut hinein. Empirie war auch für ihn immer ein wichtiger Zugang zur Realität und das ist auch im Stil der Zeitschrift erhalten geblieben. Was v. Bracken hier (1964) als Vorwort schreibt, diese zwei
Gespräch mit Frau Karola v. Bracken über den Begründer der HEILPÄDAGOGISCHEN FORSCHUNG
Seiten, das könnte man heute noch ins Editorial schreiben.
v. Bracken: Jetzt habe ich Ihnen so viel Privates erzählt, aber ich wollte Ihnen ein bißchen auch den Menschen darbringen.
Probst: Ja, ich finde es sehr eindrucksvoll, das ist ein Porträt der persönlichen Seite Ihres Mannes geworden. Ich wünsche mir, daß die Leser der HF meinen Eindruck von der biografischen Seite eines frühen Titanen unseres Faches nachempfinden. Ich danke Ihnen für die Preisgabe dieser Einblicke.
Glossar der im Interview erwähnten Personen
Gordon Allport: US-amerikanischer Psychologe mit den Arbeitsgebieten Psychologie der Persönlichkeit und Sozialpsychologie. Er holte v. Bracken 1950 auf eine Gastprofessur nach Harvard. Allport verstarb während noch v. Bracken sein Buch Pattern and Growth in Personality ins Deutsche übertrug(Gestalt und Wachstum in der Persönlichkeit, Meisenheim 1970). Er war Patenonkel seines Sohnes Richard Gordon Ernst Helmut v. Bracken(* 1964).
Heinrich Düker(1898-1986): Professor für Allgemeine Psychologie in Marburg. Schüler des frühen Motivationsforschers Narziss Ach. Lehrte in Marburg bis 1967. Düker förderte (auch materiell) die Etablierung der Sonderschullehrerausbildung in Marburg. Enge kollegiale und persönliche Beziehungen zu seinem Schüler Prof. Dr. Lothar Tent, der v. Brackens Nachfolger als Direktor des Instituts für Heil- und Sonderpädagogik sowie als Herausgeber der HEILPÄDAGOGISCHEN FORSCHUNG wurde.
Georg Feuser: Professor für Behindertenpädagogik in Bremen und Promotor der Integrationsbewegung für geistig behinderte Schüler. Als er Ende der 60er Jahre in Marburg das Zusatzstudium Sonderschulpädagogik
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XX, Heft 4, 1994