Zeitschrift 
Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
Seite
162
Einzelbild herunterladen

nach ihrem Gesamtbild und besonders nach dem Stand der Schulleistungen zu schließen, sollte man in anderen Berei­chen stärkere Ausfälle erwarten.(Man darf auch nicht übersehen, daß Hilfs­schulbedürftigkeit sogar mit Spitzen­leistungen im PMT verbunden sein kann.) Wenn dem so ist, läßt sich die Theorie von der globalen Entwicklungs­hemmung nicht halten, ein älteres Hilfs­schulkind nicht mit einem jüngeren nor­malen vergleichen; man müßte vielmehr eine qualitativ eigenartige Struktur, ei­nen schwerpunktmäßigen Ausfall mit be­stimmten Folgeerscheinungen annehmen (beispielsweise ähnlich wie Busemann). So scheint auch weniger die Abstrakt­heit eines Problems als die Unanschau­lichkeit für Hilfsschulkinder besonders schwierig zu sein: Obwohl es sich um abstrakte Aufgaben handelt, leistet die Mehrheit der Hilfsschulkinder nur mä­Big Unterdurchschnittliches. Anschau­liche Aufgaben und abstrakte Aufgaben, soweit sie anschaulich zu lösen sind, dürften also nicht den Schwerpunkt des Ausfalls bei Hilfsschulkindern treffen. Vermullich gilt dies eher von unanschau­lichen Aufgaben, selbst wenn es kon­krete sind vielleicht sogar schon von solchen konkreten, die nur in der Vor­stellung zu lösen sind(Hans ist kleiner als Fritz und Fritz ist kleiner als Max; wer ist der Größte?). Jedenfalls gibt die vorliegende Untersuchung hinreichen­den Anlaß, die inzwischen Allgemeingut gewordene Behauptung vomKonkretis­mus der Hilfsschulkinder vorsichtig wieder infrage zu stellen.(Allerdings setzen manche Autorenkonkret gleich anschaulich und übersehen, daß es sich begrifflich um völlig verschiedene Ka­tegorien handelt.)

Andererseits finden wir sehr häufig die Behauptung, Hilfsschulkinder könnten nur reproduktiv und sozusagen nach Schablone denken, während sie beim produktiven, selbständig problemlösen­den Denken versagten(man vgl. etwa Raatz, 1926, S. 156). Auch das stimmt offensichtlich nicht. Wie hier gezeigt, können Hilfsschulkinder relativ gut Pro­bleme selbständig und produktiv lösen, zumindest sofern es sich um anschauli­che Probleme dieser Art handelt. Man

162

Karl Josef Klauer+ Der Progressive-Matrices-Test(1964)

könnte im Gegenteil vermuten, daß ge­rade das reproduktive Denken(der ein­sichtige Erwerb, die Festigung und die richtige Anwendung von Wissen und Können) besonders benachteiligt ist. Bei anderen Untersuchungen, die wir am Kölner Heilpädagogischen Institut durchführten, fanden wir z.B. bei einem sehr hohen Prozentsatz von Hilfsschul­kindern in den Hawik-UntertestsAll­gemeines Wissen undRechnerisches Denken die tiefsten Werte des Verbal­teils mit relativ hohen Werten im Unter­testAllgemeines Verständnis also Ausfälle dort, wo Wissen vorhanden sein und richtig angewandt werden muß und relativ gute Leistungen dort, wo kleine Probleme des Alltags gelöst werden sol­len.

Die Fehleranalyse zeigte ferner, daß die Hilfsschulkinder bei den hier geforder­ten Aufgaben qualitativ nicht anders vor­gehen als Volksschulkinder. Die glei­chen Aufgaben sind beiden Schüler­gruppen gleich leicht oder gleich schwer, und beide bevorzugen dieselben Falsch­lösungen. Hilfsschulkinder zeigen hier, von der mäßigen quantitativen Minder­leistung abgesehen, kein qualitativ ei­gentümliches(oder gar primitiveres) Denken. Es ist beispielsweise nicht so, daß Hilfsschulkinder bei den Falschlö­sungen betont uneinsichtig vorgehen würden und etwa stereotyp bestimmte Positionen der Auswahlstücke wählten (z.B. immer das letzte Stück der oberen Oder unteren Reihe). Bei den Falsch­lösungen folgen sie demselben Trend, den die Volksschulkinder einschlagen, der durch bestimmte gestaltpsycho­logische Gesetzlichkeiten gesteuert er­scheint, so u.a. durch die Tendenz zur Gestaltschließung.

Der Durchschnitt der Hilfsschulkinder liegt bezüglich der Leistungsmenge zwar um etwa 2 Jahre hinter dem Durchschnitt altersgleicher Volksschulkinder zurück; der Abstand zwischen beiden Gruppen vergrößert sich jedoch nicht. Der Lern­und Reifungsprozeß setzt zwar verspä­tet ein, ist aber nicht verlangsamt, bezo­gen auf den beobachteten Zeitabschnitt. Streng genommen kann es sich also hier nicht um eine Entwicklungshemmung sensu Hanselmann handeln, sonst müß­

ten progressive Minderleistungen beob­achtet werden. Nach Hanselmanns Auf­fassung handelt es sich bei der Entwick­lungshemmung nicht um eine zeitweise Blockierung, sondern um eine wesens­mäßige Schwäche. Nun ist aber das Entwicklungstempo der im PMT erfaß­ten anschaulichen Intelligenz bei Hilfs­schulkindern nicht herabgesetzt, der Fortschritt ist in gleichen Zeiteinheiten hier wie dort gleich groß, lediglich daß die Hilfsschulkinder im Durchschnitt ein niedrigeres Anfangsniveau mit­bringen. Wie das bedingt sein kann, be­darf besonderer Untersuchungen. Nach allem kann man vielleicht vermuten, daß die hier beobachteten relativen Minder­leistungen der Hilfsschulkinder nicht so sehr durch primitiveres Denken infolge Entwicklungsverzögerung wegen anlage­mäßiger Minderbegabung bedingt sind. Möglicherweise liegt der entscheidende Mangel bei den notwendigen Vorerfah­rungen infolge einer Komplikation un­günstiger Entwicklungsbedingungen (Klauer, 1960), zumal soziale und kul­turelle Faktoren das Leistungsniveau in diesem Test nachweislich beeinflussen (Raven).

b) praktisch

Für die Hilfsschuldidaktik sind weitere Untersuchungen dieser Problematik von großer Bedeutung. Sie fördern die Wen­dung vom bloßen Anschauen zum an­schaulichen Denken, zur Lösung an­schaulicher Probleme wie zum anschau­lichen Problemlösen. Auf diese Weise kann man dem Grundsatz der Förde­rung weniger geschädigter Funktionen gerecht werden in Richtung auf ein schlichtes, anschauungsnahes Weltbe­greifen.

Was den hier überprüften Test betrifft, kann auf folgendes hingewiesen werden. Aufs Ganze gesehen sind die Ergebnisse des PMT im Einzelfall didaktisch wich­tiger als im Hinblick auf das Umschu­lungsverfahren. Der PMT ist sicher ein gutes Diagnostikum des problemlösenden anschaulichen Denkens mit all seinen didaktisch wichtigen Momenten(Glie­dern, Beobachten, Vergleichen, Gestalt­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XX, Heft 4, 1994