Sozialpsychologische Untersuchungen an sprachbehinderten Kindern in Normalschulklassen(1964)
Von Gustav Kanter
Inhalt: I. Einleitung— II. Die Untersuchung: A. Untersuchungsgruppe und Durchführung der Untersuchung— B. Ergebnisse: 1. Die soziometrische Erhebung: a) Positionen der sprachbehinderten Schüler— b) Vergleich zwischen Erst- und Zweituntersuchung— c) Vergleich zwischen den Wahlgängen„sitzen“ und„spielen“—
d) Begründungen für die Ablehnung— 2. Intelligenz, Schulerfolg und Leistungsverhalten— 3. Beurteilung des Sozialverhaltens der sprachbehinderten Kinder durch den Lehrer— 4. Der Rosenzweig P-F Test— 5. Einzelfall-Darstellungen— C. Diskussion der Ergebnisse— III. Zusammenfassung— Anmerkungen-— Literatur.
I. EINLEITUNG
Etwa 15—-25%(die Zahlenangaben variijeren stark) aller Schüler haben mit Sprachstörungen zu tun. Etwa 2-3% sind so stark behindert, daß ihre„Verkehrsfähigkeit“ deutlich herabgesetzt ist(H. Manig 1938, S. 676; H. Jürgensen& J. Wulff 1955, S. 45; R. Binnenbruck 1958, S. 83; D. Schlosser 1959, S. 22; M. Hess 1959, S. 217; Kruse/Schmidt 1960, S. 46; J. Wiechmann 1960, S. 46ff.; W. Binzen 1963, S. 65). In schwereren Fällen pflegen mit den Sprachstörungen, teils als Ursache, teils als Folge auch psychische Veränderungen einherzugehen, die bei den davon Betroffenen zu Besonderheiten in der Persönlichkeits- und Leistungsstruktur führen.
Eine verantwortliche pädagogische Arbeit wird sich auf diese Gegebenheiten einstellen müssen und zu überlegen haben, welche gezielten heilpädagogischpsychologischen Maßnahmen neben die eigentliche Sprachtherapie treten könne, um dem behinderten Kinde von seiten der Schule gerecht zu werden. Einen wichtigen Beitrag leisten in diesem Sinne die bestehenden sprachheilpädagogischen Einrichtungen. Sie erfassen jedoch nur einen Teil der Sprachgestörten. Weit mehr Sprachbehinderte befinden sich in den Normalschulen.
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Über die schulische Situation dieser Kinder, über Art, Umfang und Auswirkung ihrer psychischen Besonderheiten ist nur wenig bekannt. Infolgedessen herrscht auch Unklarheit darüber, in welchem Ausmaß und auf welche Art und Weise spezielle pädagogische Maßnahmen notwendig sind. Man kann sich zur Klärung dieser Fragen natürlich auf Erfahrungen der Beratungspraxis und der Sprachheilschulen stützen. Außerdem läßt sich eine ganze Reihe ausländischer, überwiegend anglo-amerikanischer Untersuchungen heranziehen. Es wäre jedoch dringend erforderlich, mit Hilfe von „Feldforschungen“ endlich eine zuverlässige eigene Bestandsaufnahme vorzunehmen, die als Grundlage pädagogischer Entscheidungen dienen könnte. Es soll dabei nicht verkannt werden, daß gerade bei Sprachbehinderten das Geflecht zwischen„primärem Defekt“ und „sekundären Persönlichkeitsverformungen“(von Bracken) schwierig zu durchdringen ist. Genauere Kenntnisse auf diesem Gebiet gehören aber in der Sprachheilpädagogik zu den unabdingbaren Voraussetzungen erzieherischen Handelns.
Unter diesem Aspekt hat Prof. Dr. Dr. von Bracken Untersuchungen angeregt, die einmal statistische Angaben über Art und Häufigkeit von Sprachstörungen im
Schulalter erbringen und zum anderen sich mit Fragen der Persönlichkeitsstruktur und. Persönlichkeitsentwicklung der behinderten Kinder, ihrer sozialen Eingliederung sowie mit schulorganisatorischen Möglichkeiten befassen sollen. Der vorliegende Beitrag gehört zu diesen Arbeiten.
Ausgangspunkt bildete eine Erhebung von D. Schlosser(1959) über Art und Umfang von Sprachstörungen bei Kindern und Jugendlichen in den öffentlichen Schulen. Die Untersuchungen fanden im Rheingaukreis, einem ländlichen Siedlungsgebiet Hessens mit kleinindustriellem Einschlag, statt. Sie wurden am selben Personenkreis von J. Möller (1961) unter sozialpsychologischem Aspekt fortgesetzt. Die Ergebnisse Möllers waren recht interessant und gaben Veranlassung, in der von ihm eingeschlagenen Richtung weiterzuforschen. Wegen ihrer Bedeutung für die anschließenden, hier vorgetragenen Untersuchungen soll auf sie etwas näher eingegangen werden. Möller hatte sich die Frage gestellt, ob nicht Sprachstörungen — wenn man die Sprache in ihrer sozialen Funktion betrachtet— zu allgemeinen Störungen im zwischenmenschlichen Bereich führen. Mittels soziometrischer Methoden untersuchte er die Beziehungen zwischen sprachgestörten
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XX, Heft 4, 1994
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