Gustav Kanter- Sozialpsychologische Untersuchungen an sprachbehinderten Kindern in Normalschulklassen(1964)
en den vorhandenen Sprachfehlern neben- oder gleichgeordnet.
Es ist noch festzuhalten, daß die Faktorenverteilung des Rosenzweigtests im ganzen keine Gruppenunterschiede erkennen läßt. Die„bessere Gruppe“ fällt lediglich dadurch auf, daß sie in den Super-Ego Patterns bei E(aggr. Ableugnen einer Verantwortlichkeit) und I (Zugeben einer Schuld bei Ableugnen einer Verantwortlichkeit dafür) die Normwerte regelmäßig über- oder unterschreitet.(Von 11 Fällen liegen einer innerhalb der mittleren S0%, 10 außerhalb; Erwartungswerte 5,5: 5,5, Überschreitungswahrscheinlichkeit: 0,006 Binominaltest.)
C. Diskussion der Ergebnisse
Die vorliegenden Ergebnisse lassen erkennen, daß es sinnvoll und notwendig war, den Ansatz der Möllerschen Untersuchung fortzuführen. Es konnte gezeigt werden, daß der erste Eindruck, wonach sich stotternde Kinder in einer ausgesprochen ungünstigen sozialen und schulischen Situation befinden, nicht in diesem Umfange zutrifft, genauer gesagt, daß die ersten Ergebnisse und Folgerungen wichtige Spezifizierungen erfordern. Im einzelnen ergibt sich dann folgendes Bild:
1. Die sprachbehinderten Schüler erreichen im Durchschnitt etwas ungünstigere soziometrische Positionen als ihre nichtsprachbehinderten Klassenkameraden. Obwohl diese negative Tendenz wegen der kleinen Stichprobe statistisch nicht abzusichern war, ist sie doch mit hoher Wahrscheinlichkeit als real anzusehen; denn sie wurde in zwei nachfolgenden, unabhängigen Untersuchungen (R. Binnenbruck 1963; R. Kunkel 1963), über die an anderer Stelle zu berichten sein wird, voll bestätigt. Insofern bewegten sich die Beobachtungen Möllers in der richtigen Richtung.
2. Der Trend ist jedoch nicht so stark, wie es anfänglich den Anschein hatte; er gilt vor allem nicht für alle sprachbehinderten Kinder in gleicher Weise. Wie aus den Untersuchungsergebnissen klar hervorgeht, traten schwerwiegende
schulische Einpassungsschwierigkeiten und Leistungsausfälle in der Regel nur bei denjenigen sprachbehinderten Kindern auf, bei denen außer ihrem Sprachfehler zusätzliche Belastungsfaktoren sichtbar wurden. Wirklich abgelehnte oder isolierte Schüler wiesen fast durchweg schwere geistige Behinderungen, körperliche Mängel oder erhebliche Milieuschäden auf. Nicht selten trafen auch mehrere Behinderungen zusammen. Die Sprachstörungen erschienen dabei oft untergeordnet und wirkten sich teilweise nicht einmal zu Ungunsten der Betroffenen aus.
Kinder, die hingegen lediglich durch ihre Sprachstörungen auffällig waren, gehörten praktisch nicht zu den Schulversagern und waren hinreichend in die Klassengemeinschaft integriert. Allerdings ergaben sich auch bei ihnen— wie gleich näher ausgeführt wird— deutliche Hinweise für Gefährdungsmomente in der Persönlichkeitsentwicklung. Die beobachteten unterdurchschnittlichen Intelligenzquotienten und Schulleistungen gehen eindeutig zu Lasten von Kindern, die unter gegebenen Voraussetzungen in Sonderschulen für Lernbehinderte umgeschult werden müßten.
Man kann also sagen, nicht das(„nur“) sprachgestörte, sondern das mehrfachbehinderte Kind ist sozial unangepaßt und unfähig, den schulischen Anforderungen zu genügen. Es befindet sich, sowohl was seinen Leistungsstand, sein Verhalten als auch seine soziale Einbettung in das Klassengefüge angeht, in einer sehr ungünstigen und oft ausweglosen schulischen Situation.
So gesehen wäre auch das recht interessante Ergebnis gut zu erklären, daß in den Ablehnungskategorien für unbeliebte sprachbehinderte und für unbeliebte normal-sprechende Kinder keine Unterschiede nachweisbar waren und daß Ablehnungsbegründungen, die sich auf Sprachfehler bezogen hätten, in keinem einzigen Falle vorgebracht wurden.
3.. Einordnung und Bewährung des sprachbehinderten Kindes im Bereich kollektiver Ordnungsgefüge, wie hier der Schule, stellen zweifellos ein wichtiges pädagogisches Problem dar. Von fast größerer Bedeutung, wenn auch nicht
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XX, Heft 4, 1994
von ersterem zu trennen, ist aus pädagogischer Sicht jedoch die Frage nach der jeweiligen persönlichen Entwicklung des behinderten Schülers, nach seiner„Personwerdung“, nach diesen Prozeß fördernden und hemmenden Einflüssen. Die Untersuchungsergebnisse brachten unter diesem Aspekt manche Aufschlüsse, die noch einmal zusammenfassend gesehen werden sollen:
a) Kinder mit schweren geistigen, körperlichen oder umweltbedingten Behinderungen bedürfen in der Schule besonderer Betreuung. Darüber bestehen heute keine Zweifel. Diskussionen werden lediglich über Form, Art und Umfang der Maßnahmen geführt.— Die meisten der in dieser Untersuchung durch mangelhafte Anpassung und Leistungsschwäche auffällig gewordenen Schüler zählen zu dieser Gruppe. b) Die anderen Kinder, die zwar einen Sprachfehler haben, sonst aber ohne grobe Auffälligkeiten bleiben, werden hingegen— von den Bemühungen in einigen Großstädten abgesehen— zu wenig beachtet. c) In der Untersuchung bestätigte sich aber wiederum, daß auch diese Schüler Verhaltensbesonderheiten zeigen, die eine ernste Gefährdung ihrer Persönlichkeitsentwicklung darstellen. Wegen der geringen aktuellen Auffälligkeit werden diese Störungen leicht übersehen. Sie betreffen, nach dem, was aus den Untersuchungsergebnissen hervorgeht, vor allem die Persönlichkeitsdynamik und den Bereich der„Selbstwertgefühle‘“, aber auch die Schulleistung. Auf Grund der Rosenzweig-Test-Ergebnisse in Verbindung mit der Lehrerbefragung möchte man von diesen Kindern sagen, daß ihr „ICh-Engagement“ zu groß, ihre Dynamik und Handlungsfreiheit hingegen gestört und herabgesetzt sind. Sie reiben sich sozusagen an ihrer eigenen Person oder der Umwelt auf. Das kann bis hinein ins Praktische gehen, wo sie häufiger als ihre normal-sprechenden Mitschüler ungeschickt erscheinen; aber sie vermögen auch allgemein nicht in die Leistungsspitze der Schulklassen aufzurücken*, Die Gültigkeit der Testergeb
* Erwähnenswert erscheint in diesem Zusammenhang die Untersuchung A. Schillings und W. Krügers(1960), in der bei 39% Stotterern und 69%
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