Gustav Kanter- Sozialpsychologische Untersuchungen an sprachbehinderten Kindern in Normalschulklassen(1964)
nisse vorausgesetzt, besteht bei ihnen eine Unausgeglichenheit in der„Instanz“ des„Über-Ich“, im Orientierungsmuster der Verhaltenssteuerung; sie haben Schwierigkeiten beim Hineinwachsen in eine anerkannte Weltordnung(oder wie immer man diese Art des Reagierens umschreiben möchte).
Es ließ sich eine weitere etwas ungewöhnliche Erscheinung beobachten. Sie betrifft das Verhalten der Umgebung. Die Sprachstörungen(aber auch andere Behinderungen) verschafften den Betroffenen so etwas wie einen„Leidensgewinn“, und zwar insofern, als die Lehrkräfte den Schülern vielfach mit großem Wohlwollen und besonderer Nachsicht begegneten.(Das gilt jedoch nicht für Fälle, in denen spürbare Disziplinschwierigkeiten eintraten.) Sie beurteilten die Kinder in ihrem Sozial- und Leistungsverhalten recht günstig, jedenfalls kaum schlechter als die normalsprechenden Schüler und hinsichtlich ihrer Beliebtheit bei ihren Klassenkameraden wesentlich besser, als die Mitschüler das taten. Die Schulnoten lagen auch bei sehr intelligenzschwachen Schülern im Durchschnitt nicht unter „ausreichend“. Die Sprachfehler wurden gerne als Entschuldigung für Leistungsversagen herangezogen, wo Ooffensichtliche Minderbegabung vorlag.
Man kann also sagen: Die Sprachbehinderung allein bildet für das schulische Fortkommen und soziale Eingeordnetsein nur ein geringes Hindernis. Sie ist hingegen ein sicheres Indiz für eine mehr oder minder große Gefährdung der Persönlichkeitsentwicklung, die vom Pädagogen nicht übersehen werden sollte. Fragt man nach der Möglichkeit praktischer Maßnahmen, dann wäre nach allem, was aus den Ergebnissen hervorgeht, zunächst zu fordern, daß jedes sprachbehinderte Kind einschließlich
Stammlern mittlere bis schwere motorische Rückstände(gemessen mit der motometrischen Skala von Oseretzky-Göllnitz) gefunden wurden, bei norm: Kindern hingegen nur in 17% der Fälle. Daß die sprachbehinderten Kinder von den Lehrkräften oft als„ungeschickt‘“ bezeichnet werden, ist nach diesen Ergebnissen nicht verwunderlich.
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seines Lebensumfeldes einer eingehenden(gegebenenfalls periodisch zu wiederholenden) Untersuchung zu unterziehen wäre und von einer vielleicht zentralen örtlichen Beratungsstelle(Schulpsychologischem Dienst, Erziehungsberatungsstelle) über Jahre hinweg zu beobachten und betreuen wäre. Diese Untersuchung könnte die Grundlage schaffen für eine Entscheidung aus pädagogischer Verantwortung heraus, in der festzulegen wäre, welche pädagogisch-psychologisch-sprachtherapeutischen Maßnahmen in jedem einzelnen Falle zweckentsprechend sein würden. Schematische Richtlinien lassen sich dabei nicht aufstellen, weil Sprachstörungen ja eine sehr unterschiedliche Bedeutung haben können und demnach verschiedene Maßnahmen verlangen. Hinzu kommen die varijerenden örtlichen Voraussetzungen. Abschließend verdienen es einige methodologische Gesichtspunkte, noch einmal in der Diskussion erwähnt zu werden: Die Daten der vorliegenden Untersuchung sind zahlenmäßig gar nicht so verschieden von denen der Erstuntersuchung Möller(1961), vor allem die Gruppenverhältnisse(vgl. Tab. 5). Es zeigte sich aber, daß erst eine weitergehende Analyse, die die Mehrfachbedingtheit der Erscheinungen berücksichtigte, zu angemessenen Interpretationsmöglichkeiten führte. Hierin scheint ein Grundzug empirischer Erfassung der Schulwirklichkeit zu liegen.„Feldforschungen‘“ erschweren eben, wenn man so will, isolierende Variationen sehr und liefern infolge ihrer Komplexheit unübersichtliche Werte.
Die Tatsache an sich, daß bei den sprachbehinderten Kindern die Tendenz, eine bestimmte soziometrische Position über ein Jahr hinweg zu halten, zwar nicht zu groß war, aber die Gruppenverhältnisse ziemlich konstant blieben, deutet darauf hin, daß mit den Untersuchungsmethoden ein relevantes Merkmal erfaßt wurde.
Der Vergleich der Befragungsergebnisse aus den beiden Wahlgängen„sitzen“ und „spielen“ nach aufsteigendem Lebensalter zeigte, daß soziometrische Tests auf differenzierte Fragestellungen zu reagieren vermögen, wiederum ein indirek
ter Beweis für die Brauchbarkeit der Methode.
Die Ergebnisse dieser Untersuchung liefern eine Reihe von Anregungen für weiterführende Arbeiten(einige davon wurden inzwischen bereits aufgegriffen): Die These von der Auffälligkeit lediglich der mehrfachbehinderten sprachgestörten Kinder ließe sich in Städten, bzw. Gebieten mit differenziertem und ausgebautem Sonderschulwesen gut überprüfen. Überhaupt wäre es wichtig, der Frage der Belastungsfaktoren bei sprachbehinderten Kindern weiter nachzugehen. Es konnte in der Untersuchung ferner nicht geklärt werden, wie sich die Verhältnisse nach Lebensalter, Schulart und-stufe, nach Geschlecht und vor allem auch der Art der Sprachstörung verschieben. Besonders ist hier an die Gruppe der Stotterer gedacht. Erhebliche Bedeutung käme einer Überprüfung der Rosenzweig-Test-Ergebnisse zu. Hier liegen widersprechende Daten vor(z.B. L.R. Madison& R.D. Norman 1952 sowie B. Quarrington 1953). Auch der Frage eines möglichen„Leidensgewinnes“ sollte man nochmals nachgehen. Obwohl sich die Untersuchungen fast auf einen gesamten Landkreis erstrecken, sind sie doch nicht umfangreich genug und können(auch nicht für ländliche Bezirke) den Anspruch auf Repräsentativität erheben.
Ill. ZUSAMMENFASSUNG
Die Untersuchung beschäftigt sich mit der schulischen Situation sprachbehinderter Kinder in Normalschul-Klassen. In 15 Klassen vom vierten bis neunten Schuljahr(510 Schüler) eines Landkreises wurden 21 sprachbehinderte Kinder erfaßt. In allen Klassen wurden soziometrische Befragungen vorgenommen. Die sprachbehinderten Kinder wurden kurz exploriert sowie mit dem HamburgWechsler-Intelligenztest für Kinder und dem Rosenzweig P-F Test überprüft, die Lehrer über das Leistungs- und Sozialverhalten der Kinder befragt und die schulischen Führungs- und Leistungsnoten festgestellt.
Als Hauptergebnis der Untersuchung ließ
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XX, Heft 4, 1994