Retrospektive zum Beitrag„Sozialpsychologische Untersuchungen an sprachbehinderten Kindern in Normalschulklassen“
Von Gustav Kanter
Die damalige Untersuchung war eingebettet in eine Reihe von Erkundungsstudien zu Art und Häufigkeit von Sprachstörungen im Schulalter, zur Persönlichkeitsentwicklung und Persönlichkeitsstruktur der betroffenen Schüler, zur sozialen Eingliederung der Kinder und Jugendlichen wie auch ihrer schulischen Förderung. Von Bracken, der diese Arbeiten anregte und anleitete, hatte bereits Anfang der 60er Jahre eine aus heutiger Sicht moderne Auffassung von „Behinderung“ und pädagogischer Intervention, die sowohl den betroffenen Menschen als auch sein Umfeld in die Betrachtungen einbezog und dabei in durchaus ganzheitlicher Sicht, wie manche Pädagogen das nennen würden, besonders auch auf Wechselwirkungsmomente abgehoben. Der im Titel des damaligen Aufsatzes hervorgehobene Aspekt sozialpsychologischer Wirkmomente meint insofern keine Verengung dieses Ansatzes, sondern betont lediglich— der damals landläufigen Praxis zuwiderlaufend— die Gewichtung von Sozialfaktoren für Diagnose und Erziehungshandeln bei sprachbehinderten Kindern. Bekanntlich dominierte zu jener Zeit stärker ein medizinisch-therapeutisches Handlungskonzept, in dem versucht wurde, die jeweiligen Sprachauffälligkeiten unmittelbar anzugehen, das aber mögliche Umfeldbedingungen weniger im Blick hatte.
Von Bracken, der selbst sowohl ausgebildeter Pädagoge und Psychologe als auch Mediziner war, vernachlässigte allerdings bei seinen Überlegungen keineswegs medizinische Gesichtspunkte. Die Abklärung von somatischen Bedingungen, Krankheitsfolgen und bio-psyChischen Gegebenheiten sowie die Beachtung medizinisch-therapeutischer Vorschläge gehörten für ihn zu unver
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zichtbaren Elementen eines jeden Förderplans. Sie waren aber stets einzubinden in eine personale Gesamtförderung. Von Bracken sprach im Zusammenhang mit Definitionsvorschlägen zum Behinderungsbegriff auch stets von Beeinträchtigungen„im Prozeß des SichBildens‘“, nicht von Beeinträchtigungen der Bildung und Erziehung. D.h., er hob die Bedeutung von Selbstgestaltungskräften und Selbstbestimmungsnotwendigkeit im einzelmenschlichen Entwicklungsprozeß bewußt hervor und erachtete den Menschen(auch denjenigen mit Behinderungen) als aktives, sich selbstgestaltendes Wesen und nicht als Objekt, dem Bildungsbemühungen zuteil werden müßten. Es waren dies originäre, durch von Bracken vertretene Betrachtungsweisen und Positionen, lange bevor sie zum Repertoire allgemeiner Proklamationen heutiger sonderpädagogischer Fachvertreter wurden.
Der Diskussions- und Interpretationsrahmen der damaligen, auf Anregung von von Bracken entstandenen Arbeiten eröffnet folglich auch sehr zeitgemäße differenzierte Betrachtungs- und Handlungsperspektiven von Behinderung. „Die Sprachbehinderung allein“, so heißt es z.B. resümierend im 0.g. Aufsatz,„bildet für das schulische Fortkommen und soziale Eingeordnetsein nur ein geringes Hindemis. Sie ist hingegen ein sicheres Indiz für eine mehr oder minder große Gefährdung der Persönlichkeitsentwicklung, die vom Pädagogen nicht übersehen werden sollte“(S. 73). Dagegen waren es die mehrfachbehinderten Kinder, die sich in der Untersuchungsgruppe sowohl als sozial unangepaßt als auch als unfähig erwiesen, den schulischen Anforderungen zu genügen, und sie waren es, die nach dem damaligen Votum einer besonderen schulischen
Betreuung bedurften. Allerdings— so der ausdrückliche Hinweis in jenen frühen Arbeiten— sind auch Sprachauffälligkeiten einfacherer Art stets Indiz für gestörte Kommunikationsprozesse(vgl. Möller 1961; Kanter 1964), und sie werden, wie in den damaligen Untersuchungen festgestellt, oft zu wenig in diesem Sinne beachtet. Sprachbehinderung wird somit nicht als ein isoliertes, personbezogenes Merkmal von Defektivität gesehen, sondern weiter gefaßt als„mehrdimensionales, komplexes und dynamisch veränderbares Geschehen..., das vor dem Hintergrund eines Beziehungsnetzes psychischer, sozialer und im Einzelfall auch organischer Determinierungen gedeutet werden muß“(Grohnfeldt 1989, 16).
Mehrfachschädigungen sind übrigens ein Phänomen, auf dessen Bedeutung in vielen der Erhebungen eingegangen wird. So wird in der im deutschen Sprachraum wohl umfangreichsten neueren Längsschnittstudie über Art und Häufigkeit von Behinderungen im Kindesalter berichtet,„daß Kinder, die ausschließlich sprachlich auffällig sind, in den übrigen Persönlichkeitsbereichen aber durchschnittliche Leistungern erbringen, auBerordentlich selten vorkommen“(Bekker 1991, 319).
Meine damalige, die Vorarbeiten Möllers (1961) fortsetzende Felduntersuchung, in der alle(510) Schüler eines ländlich strukturierten Sprengels in den Klassen 4 bis 9(Altersspanne 9;6 bis 14;7 Jahre) erfaßt wurden, erbrachte 28 sprachauffällige Schüler, deren Verkehrsfähigkeit deutlich eingeschränkt war. Das entspricht einer Quote von 0,55% der Alterspopulation. Davon konnten 21 in das gesamte Untersuchungsprogramm einbezogen werden. Kinder mit leichteren Sprachauffälligkeiten blieben in dieser
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XX, Heft 4, 1994