Gustav Kanter- Retrospektive zum Beitrag„Sozialpsychologische Untersuchungen...“
Studie außer Betracht. Die Schüler besuchten alle die Regelschule. Eine Sprachheilschule stand im erfaßten Einzugsgebiet nicht zur Verfügung. Diese niedrige Erfassungsquote— es wird in der Literatur von ca. 10% Kindern im Einschulungsalter mit Sprachauffälligkeiten ausgegangen(Knura/Neumann 1980, 52)— zeigt an, daß tatsächlich nur Schüler mit massiven Sprachauffälligkeiten in die engere Untersuchung einbezogen worden waren. Das sind die Anteile an der Schülerpopulation, wie sie gemeinhin als„sonderschulbedürftig“ im Sinne der Sprachheileinrichtungen gerechnet werden(a.a.O., S. 53). Nachdem zum damaligen Zeitpunkt aber keine spezifische sonderpädagogische Förderung angeboten werden konnte, blieben diese Schüler mit ihren Schwierigkeiten der allgemeinen Erziehungskunst ihrer Lehrkräfte anheimgestellt. Sprachpsychologische empirische Untersuchungen im engeren Sinne wurden im deutschsprachigen Raum übrigens vor allem in den 60er/70er Jahren durchgeführt(z.B. Binnenbruck 1963; Ding 1971; Deuse 1975; Doerr 1974; Gerling 1970; Grohnfeldt 1975a, 1975b, 1976; Kanter 1964; Knura 1969; Kröhnert 1971; Krüger-Rexrodt 1969; Möller 1961; Rieck 1972; Schlicker 1972; Schmalz 1974; Stein 1973; Wessel 1962). Danach verlagerte sich das Forschungsinteresse auf komplexere und stärker theoriegeleitete Problemstellungen, bei denen sozialpsychologische Aspekte zwar einbezogen, aber nicht mehr explizit angegangen wurden. Braun(1980, 546) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß in deutschen Beiträgen zur sozialen Situation und zum Sozialverhalten Sprachbehinderter„mehr personenzentriert nach den Auswirkungen gestörter Sprache auf das soziale Verhalten und die soziale Entwicklung der Betroffenen vor allem im schulischen Bereich“ gefragt wird, während angelsächsische Arbeiten„generell interaktionistisch ansetzen und vor allem die Eltern-Kind-Beziehungen bei Sprachbehinderten und Nichtsprachbehinderten untersuchen“.
Zwei wichtige Arbeitsergebnisse aus dieser Zeit stammen von Knura(1969,
1970, 1972) und von Grohnfeldt(1976). Knura ging es in ihren Erhebungen um Einstellungs- und Vorurteilsprobleme gegenüber Sprachbehinderten und nachfolgend um die Erfassung von Reafferenzen in der Persönlichkeitsentwicklung der Betroffenen, die zur sozialen Fehlanpassung führen. Grohnfeldt hat als empirischen Eigenbeitrag Untersuchungen zur„Erfassung der familiären und sozialen Situation Sprachbehinderter und ihrer Rückwirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung‘“ mittels Fragebogenerhebungen vorgelegt(1976, 13), vor allem aber sukzessive die einschlägige Problematik der Störungen der Sprachentwicklung, auch soweit sie auf sozialpsychologische und soziologische Begründungszusammenhänge bezogen sind, überblicksmäßig aufgearbeitet (Grohnfeldt 1976, 1993). In einer zusammenfassenden Bewertung vorliegender Befunde schreibt er,„daß eine Vielzahl von Einzelbelegen vorliegt, die einen Zusammenhang von Sprachentwicklungsstörungen mit Beeinträchtigungen anderer Entwicklungsbereiche nahelegen. Dabei ist tendenziell davon auszugehen, daß mit zunehmendem Schweregrad der Sprachstörung auch die anderen Entwicklungsdimensionen in erhöhtem Maße betroffen sind... Offensichtlich sind die einzelnen Bereiche dabei nicht isoliert zu sehen, sondern machen bei einer integrativen Verkettung herausragende Bestandteile eines übergreifenden Gesamtsystems aus“(1993, 89f.). Dieser Einschätzung ist nichts hinzuzufügen. Es wird aber damit auch deutlich, daß in der heutigen sprachheilpädagogischen Praxis für sprachbehindertenpädagogische Interventionen zweckmäßigerweise von„offenen“ Erklärungsund Begründungskonzepten ausgegangen werden sollte, in denen die fruchtbare Konkurrenz von Theoriemodellen nicht nur zulässig, sondern der Weiterentwicklung sogar dienlich ist.
Damit rundet sich die Retrospektive zum obigen Aufsatz: Von Bracken hat von allen damaligen Umschreibungsversuchen für den Arbeitsbereich Sonderpädagogik die Definition: Sonderpädagogik ist„die Wissenschaft und Praxis der Erziehungshilfe bei außergewöhnli
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XX, Heft 4, 1994
chen Schwierigkeiten des Sich-Bildens“ (Vorlesungsmitschrift WS 1957/1958) bevorzugt und die Sonderpädagogik damit fraglos als eine anwendungsbezogene (nicht„angewandte‘“) Wissenschaft ausgewiesen, nämlich als Theorie und Praxis der Erziehungshilfe in spezifischen Erziehungssituationen. Beschreibung, Erklärungs- und Begründungszusammenhang sowie Systembildung stehen im Dienste des Erziehungshandelns. Um diesen Zielsetzungen entsprechen zu können, nutzt die Sonderpädagogik notwendigerweise in weiten Bereichen Methoden und Erkenntnisse benachbarter Wissenschaften. Insofern ist sie eine Integrationswissenschaft, die jedoch vor der großen Schwierigkeit steht, jene nachbarwissenschaftlichen Erkenntnisse nicht einfach übernehmen und unmittelbar anwenden zu können, sondern sie für ihre Fragestellungen modifizieren und in ihre Handlungskonzepte einpassen zu müssen. Das bedeutet zugleich, daß sie im Rahmen eines Theoriekonzepts eigenständige, begründete Denkund Handlungsstrategien entwickeln muß. Der Anwendungsbezug liegt also nicht in den„angewandten Erkenntnissen“ aus Nachbarwissenschaften, sondern in der die Sonderpädagogik als Wissenschaft begründenden Aufgabenstellung der„Erziehungshilfe bei außergewöhnlichen Schwierigkeiten des SichBildens‘“. Davon unberührt bleibt die Tatsache, daß die Sonderpädagogik zur Lösung ihrer praktischen Aufgaben stets auch mit anderen Disziplinen zusammenarbeiten muß, die sich, gleich ihr, Menschen mit Benachteiligungen und Behinderungen widmen. So gesehen ist sie immer auch Kooperationswissenschaft.
Dies alles gilt auch für die Sprachbehindertenpädagogik. Um ihren Auftrag der theoretischen Abklärung und praktischen Umsetzung von Erziehungshilfe bei Kindern und Jugendlichen mit Sprachproblemen sach- und fachgerecht erfüllen zu können, bedarf sie der kritischen Sichtung und Auswertung vielfältiger Theorie- und Praxismodelle, um in diesem Zusammenhang ein Eigenkonzept zu formulieren. Die Gewichtungen einzelner Erklärungs- und Interventions
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