Heft 
(2016) 102
Seite
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22 Fontane Blätter 102 Unveröffentlichtes und wenig Bekanntes Theodor Fontane Franz Riß Erstdruck: Neue Littera­rische Blätter. 4. Jg., Nr. 9, Braunschweig, Juni 1896, S. 252–255(Teil I) und Nr. 10, Juli 1896, S. 291–294(Teil II). I. Wer in jungen Jahren Fontanes Romane liest, wird schwer daran Gefallen finden. Die Jugend begeistert sich gerne und verlangt von jedem Buch Cha­raktere und Momente, die ihr hierzu willkommenen Anlass geben. Fonta­nes Romane genügen diesen Anforderungen sehr wenig. Ihr Verfasser hat­te die Zeit der Jugend lange hinter sich, als er sie schrieb, und er hatte in seinem Leben zuviel gelernt, um die Gestalten und Vorgänge, mit denen er sich beschäftigt, in einem anderen Lichte als in dem der klaren, aber nüch­ternen Wirklichkeit zu sehen. In seinen Stoffen ist er mehr Erzähler als Dichter. Das Meiste dessen, was er schildert, hat er selbst erlebt und selbst geschaut; der freien Erfindung gönnt er nur engbemessenen Flug. Die Er­innerung lähmt dem Geist die Schwingen, auf denen er sich in das Reich der Phantasie erheben könnte; das Wissen beweist sich als des Dichters Feind. Nur in der Form, in der Art und Weise, wie er das Selbsterlebte und Selbstgeschaute wiedergiebt, offenbart er seine höhere Kraft. Es giebt Ge­setze der Form, die sich nicht in Worte fassen lassen, die nicht von willkür­lich gewählten Beispielen als allgemein giltig abzuleiten sind. Sie bleiben ungeschrieben, weil sie von Fall zu Fall sich neu gestalten; man kann sie nicht lernen, sondern nur erfassen; man kann ihre Beobachtung nicht be­weisen, sondern nur fühlen. Das ist das Geheimnis alles künstlerischen und damit auch des dichterischen Schaffens. Nicht immer ist es leicht und einfach zu sagen, ob diese Gesetze befolgt sind oder nicht; sonst gäbe es nicht den ewigen Streit über das wahrhaft Schöne. Es giebt auf allen Ge­bieten der Kunst Perlen, die in ihrem Wert kein Knabe, die nur ein Mann zu schätzen weiss. Theodor Fontanes Romane gehören zu diesen Werken, ­deren Schönheit nicht aufdringlich zu Tage liegt, dem eingehenden Beob­achter sich aber um so herrlicher erschliesst.