Heft 
(2016) 102
Seite
27
Einzelbild herunterladen

Theodor Fontane  Riß 27 zwar nicht nur die Mark seiner Zeit, sondern auch die der Vergangenheit. Freilich ist er nicht eigentlich Historiker; aber darauf kam es auch gar nicht an; vielmehr lag für ihn ein Vorzug in diesem Mangel. Dem Geschichts­schreiber ist es nicht erlaubt, die Lücken, welche zwischen seinen Do­kumenten bestehen, anders als durch zwingende Schlussfolgerungen ­auszufüllen; er darf nur behaupten,|[S. 255] was er auch beweisen kann. Der Erzähler hat ein viel freieres Feld; er belebt die Figuren, mit denen er sich beschäftigt und aus ihrem Charakter, wie er ihn bildet, erklärt er sich das, worüber er in anderen Quellen keinen Aufschluss findet. Und er kann auch schon in Auswahl seiner Quellen viel sorgloser zu Werke gehen. Was durch lange Überlieferung vom Ahnen auf den Enkel gekommen ist, das ist ihm wert, so wie es sich bietet, mit all seinen Erweiterungen, Verkürzun­gen, Fälschungen und Irrtümern. Die Schilderung, aus welcher der Histori­ker mit vieler Mühe den richtigen Kern herausfinden muss, kann der Erzäh­ler unbedenklich in ihrer ganzen Gestalt niederschreiben; ihn interessiert es, dass etwas derartiges erzählt wird, mag es geschichtlich haltbar sein oder nicht. Fontane hat von diesem Vorrecht reichlichen Gebrauch gemacht. Wie sollte er auch anders ein lebenswahres Bild des Landes darstellen? Die äussere Geschichte desselben steht ja fest, und auch die wichtigen Momen­te der inneren. Aber daneben giebt es noch so vieles, was der Erinnerung nicht minder wert ist; Personen, deren Charaktere für ihre Zeit nicht min­der typisch sind als die der jeweils leitenden Staatsmänner; Schicksale, wel­che mit der Entwickelung des Landes in enger Verbindung stehen, wenn sie auch nicht bedeutend genug erscheinen, um von der Geschichte eingehend gewürdigt zu werden; nicht zum mindesten auch intime Züge aus dem Le­ben geschichtlicher Personen, welche kein Biograph aufgezeichnet hat, die aber im Munde des Volkes oder vielleicht auch nur in der Familie der daran Betheiligten eine treue Wahrung des Gedächtnisses finden. Das und so manches Andere ist der eigentliche Stoff des Erzählers. Es wäre undankba­re Mühe, hier kritisch zu sondern und alles zu verschweigen, was nicht be­wiesen werden kann. Die Sonderung ist hier nicht Aufgabe der Wissen­schaft, sondern des Gefühls; es muss aber ein fein entwickeltes Gefühl sein, das die rechte Wahl zu treffen weiss. Kommt es auch nicht darauf an, dass all die Züge, welche da erzählt werden, geschichtlich verbürgt sind, so ist doch ein unbedingtes Erfordernis, dass sie in den Rahmen der Geschichte sich überzeugend einfügen lassen; sie dürfen das durch die Forschung fest­gelegte Bild nicht stören, sondern müssen es beleben. Fontanes»Wande­rungen« werden diesem Erfordernis gerecht; man könnte fast sagen, dass darin gewissenhafter vorgegangen ist, als notwendig wäre. Insbesondere gilt das von dem letztgenannten Werk»Fünf Schlösser«, für das auch ­Fontane selbst eine grössere Beachtung vom geschichtlichen Standpunkt aus in Anspruch nimmt, als für die»Wanderungen«.