Theodor Fontane Riß 29 II. Die nächste Zeit nach Ausgabe des ersten Bandes der»Wanderungen« beschäftigte sich Fontane mit patriotischer Geschichtsschreibung. Es erschienen von ihm:»Der schleswig-holsteinische Krieg im Jahre 1864«,»Der deutsche Krieg von 1866«,»Der Krieg gegen Frankreich«,»Aus den Tagen der Okkupation, eine Osterreise durch Frankreich und Elsass-Lothringen«, »Kriegsgefangen«. Es sind das Werke, die in einer ausführlichen Biographie Fontanes wohl zu würdigen wären, gleichwohl aber für die Beurteilung seines Entwicklungsgang es, wie er selbst zugesteht, weniger in Betracht kommen. Schriftstellerisch das bedeutendste ist das letztgenannte. Fontane hatte sich während des französischen Krieges hineingewagt in das alte romantische Land. Am 4. Oktober 1870 wurde er in Domrémy verhaftet. Es war ihm keine feindselige Haltung gegen Frankreich nachzuweisen, aber er war einmal verdächtig, und das genügte in jener erregten Zeit vollkommen, um ihn gefangen zu halten. Der Spruch eines Kriegsgerichtes verwies ihn auf die Insel Oléron an der Westküste Frankreichs. Glück genug, dass man ihm das Leben liess. Die Reise nach Oléron und der Aufenthalt daselbst waren nicht eben ergötzlich. Aber in Fontane lebte das heitere Gemüt seines Vaters, das auch der trostlosesten Lage noch ein freundliches Gesicht abzugewinnen vermochte. Wenn er zwischen zwei Gensdarmes von Stadt zu Stadt weiter gebracht wurde, fand er doch noch Zeit und Lust, sich Land und Leute um sich anzusehen; die Stunden, die er im Gefängnis verbrachte, schildert er stets mit Gleichmut und, soweit es der Ernst der Lage verträgt, mit köstlichem Humor. Was sich schon in seinen»Wanderungen« deutlich bemerkbar machte, das zeigt sich auch hier bei den Schilderungen aus dem Lande seiner Abstammung, das ihn so ungastlich aufnahm: eine glückliche Naturanlage, eine im Lauf der Jahre ausgebildete ruhige Lebensanschauung, ein vornehmer und liebenswürdiger Charakter hoben ihn über die ihn umgebenden Dinge hinaus. Er vermag diese Erlebnisse so sachlich zu würdigen, als wäre er niemals mitten in ihnen gestanden: das Unrecht, das ihm geschah, verbittert ihn in keiner Weise. Das Buch trägt die Widmung»Meinen Freunden« und das erscheint hier nicht als leeres Wort; es ist auch in der einfachen, herzlichen Sprache gehalten, in der man zu Freunden spricht. Diese schlichte Art, die gerade an solchen Werken sehr ungewohnt ist, verschafft dem Inhalt eine aussergewöhnliche Wirkung. In den gesammelten Erzählungen und Romanen Fontanes bildet»Kriegsgefangen« den Abschluss. Es ist zwar kein Roman und eigentlich auch keine Erzählung; man müsste|[S. 292] denn unter den letzten Begriff auch die Aneinanderreihung einzelner Erlebnisse einschliessen. Doch ist die Benennung gleichgiltig und liess sich Fontane die Wahl derselben überhaupt nie zur Qual werden. Er nennt auch die Schilderung seiner Jugendjahre einen Roman. So mag hier eine gleiche Freiheit der Bezeichnung gestattet sein, indem die einzelnen Stücke der Sammlung kurzweg als Roman angeführt werden.
Heft  
(2016) 102
Seite
29
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