Heft 
(2016) 102
Seite
30
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30 Fontane Blätter 102 Unveröffentlichtes und wenig Bekanntes Die Sammlung enthält in zwölf Bänden ebenso viele Romane Fontanes, die alle in verhältnis­mässig kurzer Zeit erschienen sind.»Vor dem Sturm«, der früheste und zugleich umfangreichste, kam 1878 heraus. Er bildet eigent­lich auch ein Stück der»Wanderungen aus der Mark Brandenburg«, nur dass der freien Erfindung hier etwas weiterer Spielraum gegönnt ist. Es handelt sich, wenn man eine genaue Bezeichnung geben will, um ein histo­risches Gemälde aus einer Zeit, die, von der grössten Bedeutung für die preussische und deutsche Geschichte, gleichwohl wegen der Unklarheit der in ihr sich kreuzenden Strömungen ausser­ordentlich schwer zu schildern ist: Die Pause zwischen dem Untergang der französi­schen Armee in Rus­sland und dem Beginn der Befreiungskriege. Die Handlung bewegt sich im märkischen Bistum Lebus; sie wäre an sich von geringem Interesse wie das auf Fontanes Romane durchweg zutrifft und leicht eine Absicht sich hierin erkennen lässt aber sie gewinnt ein solches und sogar in hohem Grade durch die an ihr beteiligten Personen. Diese sind alle, wenn auch nicht in ihrem Namen, so doch in ihrem Typus historisch und nicht nur mit dem Geschick, das Fontane bereits bei Zeichnung von Charakteren in sei­nen»Wanderungen« bekundet hatte, sondern auch mit grosser Sorgfalt und sichtlicher Liebe dargestellt. Es lässt sich zwar nicht leugnen, dass der Schwerpunkt zu sehr in die Charakteristik gelegt ist und dass unter ihrer breiten Durchführung das künstlerische Maass des Ganzen etwas Schaden leidet, auch wenn man nicht darauf besteht, einen Roman geboten zu erhal­ten, wie ihn das Titelblatt verspricht. Fontane ist in diesem Roman noch zu viel Historiker, um ein vollendeter Erzähler zu sein. In den Einzelheiten liegt das nicht, aber im Ganzen. Gerne wird an die Einführung einer Per­son sofort eine Schilderung ihrer Gestalt, ihres Charakters, ihres Beneh­mens, ihres bisherigen Lebens geknüpft, statt dass sich das alles, wie es in Fontanes späteren Werken meisterhaft durchgeführt ist, zwanglos aus klei­nen Zügen, die der Handlung eingeflochten sind, nach und nach ergebe. Als geschichtliche Studie ist das Werk hochinteressant; es schildert überzeu­gend die gedrückte, aber doch nicht mut- und hoffnungslose Stimmung, die zu jener Zeit auf Preussen lastete, die Gedanken des Volkes und insbesonde­re des preussischen Adels, der in Fontane wohl seinen berufensten Darstel­ler gefunden hat, des Adels, der der königtreueste der Welt, doch das Land noch über den König hält und nicht vergisst, dass»wir vor den Hohenzol­lern da waren« und der, wenn es not thut, auch allein losschlagen will gegen die französischen Bedränger, aber doch lieber nach alter preussischer Sitte auf das Gebot des Königs wartet. Trefflich sind die einzelnen auftretenden Arten auseinander gehalten: die Märker, die Ostpreussen, die Polen. Die richtige Betonung solcher Unterschiede ist Fontanes eigenstes Gebiet; hier ist er Meiser der Erfindung und Ausführung. In all seinen Romanen finden sich solche Gegenüberstellungen scheinbar gleicher, in Einzelheiten aber doch bemerkenswert voneinander verschiedener­Charaktere. Man merkt