32 Fontane Blätter 102 Unveröffentlichtes und wenig Bekanntes Fontane die Probleme nicht löst, nur in ihrer Verwirrung und Entwirrung darstellt, kann den nicht Wunder nehmen, der mit seinen Lebensschicksalen bekannt ist. War seine Abstammung aus einer französischen Familie schon eine Ursache, dass er nicht in blinder Vorliebe das Land und Volk, das ihn umgab, für allein gut, alles, was darüber hinauslag, für wertlos und verächtlich hielt, so mussten die ihn unmittelbar und tief berührenden Vorgänge in seiner Familie frühzeitig in ihm die Anschauung wecken, dass es Gegensätze gebe, bei denen man nicht für die eine oder die andere Seite sich entscheiden darf, bei denen vielmehr Recht und Unrecht in gleichem Maasse hüben und drüben zu finden. Das Leben, das diese Wahrheit ja jedem im Lauf der Jahre näher bringt, musste bei ihm die Anschauung der Jugend zur Ueberzeugung verwandeln. Er sieht das Gute auf beiden Seiten und stellt es unparteiisch einander gegenüber. Das geschieht auf Kosten einer entschiedenen Durchführung der Handlung und der Charaktere; aber Handlung und Charaktere werden dafür lebenswahrer. Das Leben gestaltet nicht nach strengen Folgerungen und stets, wo der Dichter oder Künstler nur strengen Gesetzen folgt, entfernt er sich vom Leben mehr und mehr. Das allerdings könnte man an diesen Romanen – und noch mehr an den späteren – auszusetzen finden, dass dem Gespräch und der Betrachtung ein aussergewöhnlich weiter Raum zugewiesen ist. Schwer würde dieser Vorwurf aber nur wiegen, wenn durch diese Ausdehnung Langeweile erzeugt würde. Bei Fontanes nicht leicht zu übertreffendem Geschick zum Plaudern kann das nicht zutreffen. Er wird niemals lebhaft und schwerfällig; mit leichtem Wort weiss er den Faden fortzuleiten; Sentenzen, scheinbar nebenher gesetzt und selbstverständlich, treffen in überraschender Weise den Nagel auf den Kopf. Ich würde hier auf Fontanes neuesten Roman»Effi Briest« näher eingehen, wäre demselben nicht schon von anderer Seite in diesen Blättern 10 eine Besprechung gewidmet worden. Er schliesst sich in seiner Eigenart so eng an die letztgenannten Romane an, dass alles, was von ihnen gesagt ist, ohne Weiteres von ihm gilt. Selbst Problem und Entwickelung sind nahezu dieselben. Im Mittelpunkt steht überall eine junge Frau an der Seite eines älteren Mannes, der, in seiner Art tüchtig und ehrenwert, doch ihrem Ideale nicht vollkommen entsprechen kann. Aus dem unbefriedigten Sehnen nach dem Ideal bildet sich dann eine neue Beziehung heraus, mit der sich die Erzählung nicht eigentlich befasst, die vielmehr als bestehend oder bestanden plötzlich mit ihren Folgerungen eingreift – unerwartet allerdings nur für jenen, der über die Kunst, auch Nichtgeschriebenes zu lesen, wie Fontane sie voraussetzt, nicht verfügt. Selbst in der Katastrophe scheut Fontane die Wiederholung nicht; das Duell mit unglücklichem Ausgang für den Dritten findet sich gleichmässig in»Cécile« und»Effi Briest«. Ebenso erinnert im letzteren Romane die Szene des Wiedersehens zwischen Mutter und Kind unmittelbar an das gleiche Begebnis in»L’Adultera«. Es liegt
Heft
(2016) 102
Seite
32
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