Max Bernsteins Rezension Hölscher 37 Die Freie Bühne war der ›naturalistischen‹ Schule verbunden; ihre ersten Stücke waren Ibsens Gespenster, von Fontane am 30.9.1889 in der Vossischen Zeitung positiv besprochen, und die Uraufführung von Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang am 20.10.1889 16 , worüber Fontane in der Vossischen vom 21. und 22.10.1889 eine große zweiteilige Besprechung veröffentlichte. 17 Da Bernstein nachweisbar seit Februar 1889 versuchte, eine literarische oder juristische berufliche Betätigung in Berlin zu finden 18 , ist es sehr wahrscheinlich, dass er bei der ersten und/oder der zweiten Aufführung der Freien Bühne anwesend war. Eine persönliche Begegnung von Fontane mit ihm in diesem Rahmen ist jedoch nicht belegt. 19 II. Gemessen an der Veröffentlichung der ersten Buchausgabe von Irrungen, Wirrungen Ende Januar, Anfang Februar 1888 und an den ersten zeitgenössischen Kritiken vom März und April 1888 21 hat Bernstein seine Rezension im November 1890 erst mit zweieinhalbjähriger ›Verspätung‹ geschrieben. Geschickt bezieht er sich daher auf die»im Verlage von F. Fontane in Berlin, in der zweiten Auflage« erschienene Buchausgabe(1891), die schon ab August 1890 ausgeliefert wurde. 22 Bernsteins Besprechung erreichte durch die hohe Druckauflage der MNN von ca. 80.000 Exemplaren und die Positionierung auf der ersten Seite eine große Leserschaft. 23 Er folgt dem bewährten Aufbau, den die Leser von seinen Theaterbriefen kannten: die allgemeine Einleitung mit einigen Theorie-Themen umfasst etwa ein Viertel der Rezension, die ausführliche Inhaltsangabe der Erzählung etwa ein Drittel, ebenso lang ist die eigentliche kritische Bewertung an Hand einiger wichtiger Punkte, während die knappe Zusammenfassung mit persönlichen Worten zu Fontane und einer positiven Leseempfehlung endet. Nur kursorisch deutet Bernstein eingangs die verschiedenen aktuellen literarischen Strömungen an, denen er das strenge»Gebot« entgegenstellt, welches der»große Gesetzgeber« Schiller aufgestellt habe. In der Tat zitiert Bernstein kenntnisreich und gewissermaßen mit großer Geste aus Schillers 1791 anonym erschienener, sehr grundsätzlicher, aber auch umstrittener Rezension Über Bürgers Gedichte. 24 »Dieser Maßstab«, so schwächt Bernstein jedoch sofort ab, sei aber»noch zu groß«. Stattdessen nennt er selber als Beurteilungskriterien Begriffe wie Talent eines Künstlers und die Eigenart des wahren Künstlers sowie seine Begabung, denen er»Tendenz«Literatur und das»blasse Halbtalent« gegenüber stellt. Vergleichbare Begriffe oder Beschreibungen gebrauchten auch andere Rezensenten, insbesondere sein Freund Otto Brahm in seiner Kritik zu Irrungen, Wirrungen vom April 1888 25 , sie waren zeitgenössisch wohl ›en vogue‹. Auch Fontane benutzte ähnliche Gedanken, als er sich in seinen Briefen von September und Oktober 1889 mit der Uraufführung von Gerhart Hauptmanns
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(2016) 102
Seite
37
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