Heft 
(2016) 102
Seite
38
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38 Fontane Blätter 102 Unveröffentlichtes und wenig Bekanntes Vor Sonnenaufgang beschäftigte. Gegenüber dem Verlagsbuchhändler des Textes, Paul Ackermann, lobt er z.B. am 8.9.1889»die Composition, die Consequenz in Durchführung der Gedanken« und die» Natürlichkeit«, will sich aber aus den»Streitigkeiten[] des Tages« heraushalten. Und an Hauptmann selbst schreibt Fontane am 12.9., dass er»dem Lebens- und Wahrheitsvollen,[] Ungeschminkten in der Kunst« des neuen Stückes zu­getan sei, und: ein»Tendenzstück ist Ihr Stück nicht«. Einen Tag später schickt er ihm einen weiteren Brief, warum er das Stück für»so gut« hält: »[] Es giebt für mich überhaupt keine andren Richtungen als die von gut und schlecht, von Talent und Nichttalent.« 26 Die begrifflichen Ähnlichkei­ten liegen auf der Hand, was auch daran liegen mag, dass Fontanes Briefe an die interessierten Personen der Freien Bühne weitergereicht oder bei Treffen vorgelesen wurden, so ähnlich wie das mit den fontaneschen Fami­lienbriefen auch meistens geschah und wie heute die ›Meinungen‹ in viel größerem Ausmaß in den sogenannten sozialen Netzwerken mit-›geteilt‹ werden. In seinem kritischen Teil stellt Bernstein zunächst fest, dass Fontanes Roman das»Thatenzeugende« fehle. Die Spur dieser für heutige Leser ungewöhnlichen Formulierung beginnt wohl mit Schillers Abhandlung Über das Pathetische(1793): die Poesie soll»das Herz treffen«, sie kann dem Menschen»weder raten, noch mit ihm schlagen, noch sonst eine Arbeit für ihn tun, zum Helden kann sie ihn erziehen, zu Taten kann sie ihn rufen und zu allem, was er sein soll, ihn mit Stärke ausrüsten.« 27 Die Wortschöpfung selbst findet sich erst später in der sozialkritischen Schrift über Sächsi­sche Zustände(1846) des sächsischen Frühsozialisten Herman Semmig (1820–1897). Er beklagt darin die trotz großer Missstände nur einge­schränkte Erwartung der Leser:» ihr wollt nur die Aufregung eurer Sin­ne, nicht den thatenzeugenden Schmerz des Herzens.« Friedrich Engels wiederum zitiert diese metaphorische Formulierung in Die wahren Sozia­listen( 1847) und polemisiert dagegen aus kommunistischer Sicht wortreich als zu bürgerlich und verharmlosend. 28 Ausdrücklich im Zusammenhang von Schillers Theaterstücken schreibt der zeitgenössisch sehr bekannte kritische Schriftsteller, Historiker und verfolgte Politiker der 1848/49er Revolution Johannes Scherr(1817–1886) in seinem Schiller- Roman von 1856:»Das eben ist ja das Große der Poesie Schillers, daß sie, aus der sittli­chen Überzeugung geboren, Thaten zu zeugen vermag.« 29 Und im damals aktuellen Schiller-Buch seines Freundes Otto Brahm von 1888 konnte Bernstein lesen, dass für die Zeitgenossen der Aufführungen von ­Schillers Räuber»nicht Moor, der sich unter die Gesetze beugt,[sondern] Moor, der den Gesetzen Trotz bietet, dessen Geist nach Thaten, dessen Athem nach Freiheit dürstet,[] der Held ihrer Wahl[war].« 30 Und Bernstein selbst formuliert sein Ideal zum 60. Geburtstag von Ibsen:»Er glaubt an eine Zukunft, wo die Menschen reiner, freier und besser sein werden als in