Heft 
(2016) 102
Seite
39
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Max Bernsteins Rezension  Hölscher 39 der Gegenwart.« An diese Formulierung anknüpfend fasst Joachimsthaler aus mehreren Rezensionen die Maxime Bernsteins so zusammen: glaub­würdig sei ein Charakter, wenn sich von ihm»das Bedürfnis nach einer besseren Zukunft ableiten lasse.« 31 Dass die so verstandene ›thatenzeugen­de‹ Eigenschaft Fontanes Irrungen Wirrungen»fehlt«, ist eine meines Er­achtens zutreffende Feststellung Bernsteins. Denn der Roman enthält trotz aller Ironie und Kritik keine soziale Anklage oder Aufrufe zu Veränderungen, weder vom Erzähler noch von den Protagonisten; die Hauptfiguren durchlaufen vielmehr individuelle Entwicklungen, die ein Leser eher als resignierend oder zurückhaltend, vielleicht als ›versöhnlich‹ oder ›noch offen‹ empfinden könnte. Einen weiteren Einwand macht Bernstein gegenüber der Figur von Lene Nimptsch; sie erscheint ihm»manchmal zu klug«. Er meint, ihre»so kunstvolle Anordnung der Gedanken« und»so geschickte Wortwahl« sei weder der Situation noch ihrem»Bildungsgrade« angemessen, womit Bern­stein wohl eine ›formale‹ Bildung meint. Unabhängig von der Frage, ob Le­nes persönliches Sprachvermögen von einem solchen»Bildungsgrad« ab­hängen könnte 32 , bleibt zu betonen, dass Fontane sie insgesamt als eine herausgehobene Figur angelegt hat, mit ihrer Natürlichkeit, ihrem Empfin­den, ihrer Liebesfähigkeit und ihrer letztendlich menschlich ehrlichen Ein­sicht. Ich möchte Bernsteins Kritik meinerseits nicht kritisieren, aber als Leser doch die Frage stellen, welche Konsequenz für die Erzählung es hät­te, wenn Lene dächte und spräche wie Frau Dörr oder die»Damen« der Offiziersfreunde von Botho von Rienäcker? Bernstein fände das wohl rich­tiger, aber welche literarischen Schlussfolgerungen müssten die Leser von Irrungen, Wirrungen daraus für Lene Nimptsch als Figur, für ihr Verhältnis zu Botho und seins zu ihr sowie für die gesamte Figurenkonstellation zie­hen? Meines Erachtens fällt die unausgesprochene Kritik Fontanes umso klarer aus, weil die Beziehung von Lene und Botho gerade nicht wegen ih­rer unterschiedlichen»Bildungsgrade« in die Brüche geht. Sie passen menschlich eigentlich sehr gut zusammen, aber die Zwänge wirtschaftli­cher und sozialer Art sind zu groß, und insbesondere die Ehrenregeln in Bothos gesellschaftlich höchst angesehenem Regiment Gardes du Corps, dem er als Offizier angehört, sind so streng 33 , dass Lene und Botho trotz ihrer gegenseitigen Zuneigung kein Paar werden können. Abgesehen da­von, dass Fontane kein ›Happy-End‹ schreiben wollte, ist wohl nicht der af­firmative Satz»Ordnung ist Ehe« die wesentliche Aussage von Irrungen, Wirrungen 34 , sondern die viel kritischere Erkenntnis: selbst eine natürliche, ­persönlich gebildete, ›hochdeutsch‹ sprechende Ehefrau wie Lene Nimptsch wäre eine ›Mesalliance‹ und für Bothos Stellung in seiner Gesellschafts­schicht und in seinem Beruf nicht tragbar gewesen.