48 Fontane Blätter 102 Unveröffentlichtes und wenig Bekanntes Theodor Fontane´s»Irrungen, Wirrungen« Max Bernstein Erstdruck: Münchner Neueste Nachrichten, 43. Jahrgang. Nr. 429. Freitag, 19. September 1890. Morgenblatt * Wäre die Lebhaftigkeit des Streites über künstlerische Theorien ein Anzeichen besonderer Blüthe der Kunst, so müßte Deutschland gegenwärtig von Meisterwerken überströmt sein. Aber die kastalische Fluth rinnt nur trüber, nicht stärker, wenn an ihren Ufern herüber und hinüber gekämpft wird. Ihr harmonisches Rauschen wird vom Lärm der Waffen übertönt, Trümmer der Schlacht verunreinen und stauen das klare Gewässer und als ein wilder, häßlicher Strudel stürzt es in die Gelände, die es verschönen und befruchten sollte. Aus all´ den großen Worten, welche von links und rechts, von oben und unten gesprochen werden, ergibt sich nur Eines: die persönliche Kleinheit Derjenigen, welche Alle, aus sich selbst ertheiltem Auftrage, im Namen der Kunst zu reden wagen. Sie sind als Menschen viel zu geringe, um als Künstler bedeutend sein zu können. Diese tölpeln wie trunkene Raufbolde in die Literatur hinein; sie schreien, weil sie nichts zu sagen haben, und wollen ihre Heftigkeit für Kraft gehalten wissen. Jene treiben unter der Firma literarischer Neuerer ein Geschäft mit den gemeinen Regungen der menschlichen Natur. Andere thun sich etwas auf ihre Kälte zu gut, der Witz gilt ihnen als Krone aller Fähigkeiten und ihr Selbstgefallen freut sich, den Göttern der Vergangenheit die Ehrfurcht zu versagen. Andere wiederum stellen gleich sich selbst auf dem Altar zur Anbetung aus; und Mancher von diesen hat, ehe er dreißig Jahre alt ist, schon rühmender von sich geredet als Goethe, da er im dreiundachtzigsten heimging, jemals gethan hatte. … Sie Alle haben das Gebot vergessen, das Schiller aufstellte und von dessen Strenge sich nichts abdingen läßt:»Alles, was der Dichter uns geben kann, ist seine Individualität. Diese muß es also werth sein, vor Welt und Nachwelt ausgestellt zu werden. Diese seine Individualität so sehr als möglich zu veredeln, zur reinsten, herrlichsten Menschheit hinaufzuläutern, ist sein
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(2016) 102
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