Theodor Fontane´s »Irrungen, Wirrungen« Bernstein 49 erstes und wichtigstes Geschäft, ehe er es unternehmen darf, die Vortrefflichen zu rühren.« Als der große Gesetzgeber dies verkündete, fügte er hinzu:»Wir würden nicht wenig verlegen sein, wenn uns aufgelegt würde, diesen Maßstab in der Hand, den gegenwärtigen deutschen Musenberg zu durchwandern.« Auch jetzt, nach hundert Jahren, ist dieser Maßstab noch zu groß. Danach mißt man auch gar nicht. So sehr hat man sich gewöhnt, in Dingen der Kunst Partei zu machen, daß nunmehr die Kunst als eine Parteisache gilt. Nicht nach dem Talent eines Künstlers frägt man zuerst, sondern nach seiner Tendenz. Die Losungsworte eines theoretischen Streites, das Programm einer ästhetischen Schule soll er zu seinem Glaubensbekenntnisse machen. Aber der echten Begabung ist ihre Neigung und Richtung angeboren. Einzig nach seiner Eigenart kann und muß der wahre Künstler den Weg wählen, mit jener Mischung von Freiheit und Nothwendigkeit, die ein unergründetes Geheimniß der sittlichen Welt bildet. Nur wer sich schminkt, kann die Farbe bestimmen; die Farbe seines natürlichen Gesichtes wählt der Mensch nicht aus, der Körper erzeugt sie in sich selbst, sie ist die nothwendige Folge seiner Beschaffenheit. Nur das blasse Halbtalent hat die Fähigkeit und Freiheit, Schule und Meister auszusuchen und um seines Vortheils willen den Launen des Tages zu dienen. Nicht die Theorien eines Künstlers entschieden darüber, was und wie er schafft. Sie sind nicht die Quelle, sondern das Erzeugnis seiner Eigenart. Nicht von ihnen, sondern von der Art und dem Maße seiner Begabung ist der Werth seiner Arbeiten abhängig. Dies ist eigentlich selbstverständlich. Aber die alltäglichen Wahrheiten theilen mit den alltäglichen Wundern das Schicksal, alltäglich übersehen zu werden. Heute erinnert uns ein Buch daran, das einer von den ältesten der lebenden deutschen Dichter geschrieben hat und das dennoch ein Werk der Gegenwart geworden ist, ein vortreffliches Werk – weil sein Schöpfer Talent hat. Theodor Fontane´s Roman» Irrungen, Wirrungen«(der nun, im Verlage von F. Fontane in Berlin, in der zweiten Auflage erschienen ist) erzählt eine einfache Geschichte auf einfache Weise. Eine junge Feinwäscherin in Berlin, Lene, geräth bei einer Wasserfahrt in Lebensgefahr und wird von einem jungen Kavalier, dem Rittmeister Botho v. Rienäcker, gerettet. Der Baron findet an der Schönheit und dem braven tüchtigen,»unredensartlichen« Wesen Lene`s ein Gefallen, das sich bald in Liebe, in erwiderte Liebe verwandelt. Sie gibt sich ihm hin, obwohl sie weiß, dass das Verhältnis nicht immer dauern kann; wenn die Umstände ihren Geliebten zwingen werden, sich von ihr zu trennen und eine standesgemäße Ehe einzugehen, so wird sie sich damit begnügen, glücklich gewesen zu sein. Botho hat sie auch niemals über die Unbeständigkeit dieses Glückes zu täuschen gesucht. Er ist aufrichtig, gut und liebenswürdig. Auch Lene`s nächste Bekannte – ihre
Heft
(2016) 102
Seite
49
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