52 Fontane Blätter 102 Unveröffentlichtes und wenig Bekanntes im Salon eher einmal eine alltägliche als eine gesuchte Wendung gebraucht, so verliert sich auch Fontane nicht in erregte Rede, aber einem gewöhnlichen Ausdrucke, der ihm gerade begegnet, weicht er nicht aus. Aber niemals – und dies unterscheidet ihn zu seinem Vortheile von so vielen Modernen – fällt er, um das Gemeine zu schildern, in Gemeinheit. Er verschleiert das Unanständige nicht, doch er ist Künstler genug, es ohne Beschönigung auf anständige Weise darstellen zu können. Auch dies thut er nur, soweit es durchaus nöthig ist; dann wendet er sich hinweg. Seine künstlerisch und moralisch vornehme Natur findet außerhalb der Grenzen von Schönheit und Sittlichkeit noch Gegenstände der Beobachtung, aber nicht der Freude. Von seinem gesetzten Wesen, seinem ernsten Verstande, der in keiner noch so lebhaften Gemüthslage aus der Bahn geräth, hat die Heldin seines Werkes geerbt. Vielleicht hat er diesem seinem Lieblingskinde einen zu großen Antheil gegeben. Lene erscheint manchmal zu klug. Oder ist es ein Vorurtheil, daß wir – wir Süddeutschen wohl mehr als unsere norddeutschen Brüder – von jedem Ueberschusse weiblichem Verstandes sogleich annehmen, er sei mit einem Opfer an weiblichem Seelenreiz erkauft? Ein Beispiel für Viele. In der Stunde des Abschiedes, des Abschiedes für immer, sagt Lene zu dem geliebten Manne:»Ich habe Dich von Herzen lieb gehabt, das war mein Schicksal, und wenn es eine Schuld war, so war es meine Schuld. Noch dazu eine Schuld, deren ich mich, ich muß es Dir immer wieder sagen, von ganzer Seele freue, denn sie war mein Glück. Wenn ich nun dafür zahlen muß, so zahle ich gerne. Du hast nicht gekränkt, nicht verletzt, nicht beleidigt, oder doch höchstens das, was die Menschen Anstand nennen und gute Sitte. Soll ich mich darum grämen? Nein. Es rückt sich Alles wieder zurecht, auch das.« Eine so kunstvolle Anordnung der Gedanken und eine so geschickte Wahl der Worte ist weder der augenblicklichen Lage, noch dem Bildungsgrade der Redenden angemessen. Die Worte»ich muß es Dir immer wieder sagen« auf solche Weise zwischen»eine Schuld, deren ich mich- von ganzer Seele freue« einzuschieben: das kann nur einem Redner von Beruf und in Ausübung seines Berufes, beifallen. Vielleicht haben wir Manches in Lene`s Wesen auf Rechnung des Umstandes zu setzen, daß sie Berlinerin ist. Beinahe alle Figuren des Romans sind mit fester Hand auf den Boden gestellt, der ihrem Schöpfer lieb und vertraut ist. Es sind Preußen, Berliner. Der Dichter kennt ihr ganzes Wesen, von außen und innen. Mit sicherer Gestaltungskraft, die durch scharfe und langgeübte Beobachtung unterstützt wird, hat er sie ausgebildet und ihnen die Eigenschaft gegeben, welche aus gedruckten Lettern ein Abbild wirklicher Menschen und Dinge macht: Wahrheit und Lebendigkeit. Die ganze kleine Welt, die, nahe oder ferne, an seinen Hauptpersonen sich vorbeibewegt, hat er trefflich nachgeschaffen; Arbeiterin, Gärtner, Kutscher, Wirth, märkische Adelige, hauptstädtische Militärs, Damen, Fromme, Weltkinder.
Heft
(2016) 102
Seite
52
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