Heft 
(2016) 102
Seite
75
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Fontanes politischer Altersroman Der Stechlin Zuberbühler 75 ­geworden. 6 Das Berliner Tageblatt erklärte ihn zum größten lebenden deut­schen Dichter. 7 Nur der»Adel deutscher Nation« hielt sich wie gewohnt abseits. Und dieser»große seelendeutende Dichter«, 8 »Kritiker« und ju­gendlich-lebendig gebliebene Zeitgenosse und Zeitbeobachter machte sich nun daran was Alfred Kerr damals noch nicht wissen konnte einen»po­litischen Roman« zu schreiben. Das Jahr, in dem Fontane die Arbeit am Stechlin aufnahm, war ein in­nenpolitisch höchst turbulentes Jahr, das Jahr der berüchtigten»Umsturz­vorlage«. Den äußeren Anlass für den Gesetzesentwurf hatte das Attentat eines italienischen Anarchisten auf den französischen Staatspräsidenten Carnot vom 24. Juni 1894 geboten. Am 6. September rief Wilhelm II. in ­Königsberg den Adel auf»zum Kampfe für Religion, für Sitte und Ordnung, gegen die Parteien des Umsturzes«. 9 Schon am 17. Dezember 1894 wurde dem Reichstag ein»Gesetz zur Bekämpfung der revolutionären Bestrebun­gen im Lande« vorgelegt, eben die sogenannte»Umsturzvorlage«, eine Kriegserklärung an Anarchismus und Sozialdemokratie, ein Antisozialis­tengesetz, das eine drakonische Einschränkung der Meinungsfreiheit und rigorose Sittlichkeitsnormen vorsah. Das Ansinnen der Regierung erregte auch in der bürgerlichen Welt ei­nen Sturm der Entrüstung und führte zu massiven Protesten der Gebilde­ten. Für Fontane war»die bloße Idee, das berühmte Volk der ›Dichter und Denker‹, das Volk Luthers, Lessings und Schillers mit solchem Blödsinn be­glücken zu wollen, eine Ungeheuerlichkeit und eine Blamage vor Europa, fast vor China.« 10 Der auch in der Vossischen Zeitung immer wieder als»Ungeheuerlich­keit« bezeichnete Gesetzesentwurf mit seinen»Kautschukparagraphen« be­wog selbst den sich in politischen Dingen sonst zurückhaltenden alten Fon­tane dazu, seine Unterschrift unter eine politische Kundgebung zu setzen: er beteiligte sich an einer Aktion des Vereins Berliner Presse. Dieser reichte, unter dem Vorsitz des Chefredakteurs der Vossischen, Friedrich Stephany, eine an den Reichstag gerichtete Petition ein, die am 27. Februar 1895 ver­abschiedet wurde. Infolge von Fontanes Bekanntheitsgrad hatte seine Stimme Gewicht. So konnte die Vossische Zeitung, die sich an die Spitze der Protestbewegung gegen die Umsturzvorlage stellte, Fontane zusammen mit Adolf Menzel und Gustav Freytag ihren Lesern als einen Wortführer der Nation präsentieren. Der Gesetzesentwurf wurde durch eine Kommission weiterbearbeitet. Dadurch verschob sich dessen Tendenz: die Konservativen und das katho­lische»Zentrum« verschärften die Vorlage klerikal-reaktionär. Nicht nur Anarchisten und Sozialdemokraten standen nunmehr im Visier, sondern überhaupt alle, die sich erlaubten, Kritik an den Kirchen, der geltenden Mo­ral und der bestehenden Gesellschaftsordnung zu üben. Jede»beschimp­fende Aeußerung« in der Öffentlichkeit gegen Ehe, Familie und Eigentum