76 Fontane Blätter 102 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte sollte mit einer Geldstrafe von bis zu 600 Mark oder mit Gefängnis bis zu zwei Jahren bestraft werden;»beschimpfende Aeußerungen« gegen die Religion konnten sogar mit drei Jahren Gefängnis geahndet werden. 11 Auch wer Schriften oder Darstellungen in die Öffentlichkeit brachte,»welche, auch ohne unzüchtig zu sein, durch grobe Unanständigkeit geeignet sind, das Scham- und Sittlichkeitsgefühl erheblich zu verletzen«, war dem Strafrichter verfallen. 12 »Niemals seit dem dreißigjährigen Kriege«, fasst die Vossische Zeitung ihren Protest zusammen,»hat man es in deutschen Landen gewagt, in so unverhüllter Form dem freien Geist den Krieg zu erklären.« 13 Aus der Zeit, in welcher der Kampf gegen die Umsturzvorlage in die entscheidende Phase trat, stammen auch Fontanes zornigste Ausfälle gegen den Adel und dessen zwanghaftes Festhalten am»Alten«.»Mein Haß gegen alles, was die neue Zeit aufhält, ist in einem beständigen Wachsen«, schreibt er am 6. Mai 1895 an Georg Friedlaender,»und die Möglichkeit, ja die Wahrscheinlichkeit, daß dem Sieg des Neuen eine furchtbare Schlacht vorausgehen muß, kann mich nicht abhalten, diesen Sieg des Neuen zu wünschen. Unsinn und Lüge drücken zu schwer, viel schwerer als die leibliche Noth.[...] Eh wir nicht volle Freiheit haben, haben wir nicht volle Kunst; ob einige Zoten und Frechheiten mit drunterlaufen, ist ganz gleichgültig, die leben keine 3 Tage.« 14 Zur allgemeinen Erleichterung scheiterte die Umsturzvorlage am 11. Mai 1895 im Reichstag. Der Entscheid fand ein internationales Echo. Die englische Morning Post zum Beispiel würdigte den kämpferischen Einsatz der Vossischen Zeitung; sie schloss ihren»langen Bericht über die Verwerfung der Vorlage mit einer Aufforderung an die Journale Europas, der ›Vossischen Zeitung‹, die zuerst den Schlachtruf gegen die Vorlage erschallen ließ, einer Zeitung, die wieder einmal die Sache des deutschen Journalismus und der bürgerlichen Freiheit erfolgreich vertheidigte, den Tribut der Anerkennung zu zollen.« 15 Was war das für ein Blatt, die berühmte Vossin, die zweimal täglich erschien, eine Zeitung, welche der Dichter – bis 1889 deren renommierter Theaterkritiker am Königlichen Schauspielhaus und noch in den neunziger Jahren»der verehrteste und berühmteste« unter allen»Mitarbeitern« 16 – buchstäblich bis zu seinem letzten Atemzug studierte? Politisch vertrat sie einen entschiedenen Linksliberalismus. Die Freiheit ist es, die nach ihrer Überzeugung»den Menschen erst zum Menschen, die das Leben lebenswürdig macht«. 17 Damit die freie Selbstbestimmung aber eine materielle Basis hat, ist ein hoher Grad von Wirtschaftsfreiheit unabdingbar. Die Zeitung war zwar kein Parteiblatt, unterstützte jedoch seinerzeit die 1861 gegründete»Deutsche Fortschrittspartei« und seit 1884 die»Deutsch-freisinnige Partei«, die liberale»Kronprinzenpartei«, die mit dem baldigen Regierungsantritt des künftigen Kaisers, Friedrichs III., rechnete. Zu
Heft
(2016) 102
Seite
76
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