Heft 
(2016) 102
Seite
77
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Fontanes politischer Altersroman Der Stechlin Zuberbühler 77 ­deren zentralen Programmpunkten gehörten folgende Postulate: Parla­mentarisierung der konstitutionellen Monarchie, verfassungsmäßige Ga­rantie der Bürgerrechte und Rechtsstaatlichkeit, Pressefreiheit, Wirt­schaftsfreiheit, Versammlungs- und Vereinsfreiheit, Religionsfreiheit, Trennung von Staat und Kirche, Bildungsauftrag des Staates. Vorbild ist England mit seinem parlamentarischen System. In den neunziger Jahren bekennt sich die Zeitung zu einem grundsätzlichen, parteiübergreifenden und zeitübergreifenden Liberalismus; sie habe sich, so beteuert sie,»stets ihre vollkommene Unabhängigkeit von jeder Parteiherrschaft und allen fremden Einflüssen[...] zu wahren verstanden.« 18 Es ging ihr um den»Fortschritt« im weitesten Sinn, um den»politi­schen, geistigen und wirtschaftlichen Fortschritt der Gesamtheit«. 19 Der Geist der Zeitung sei, wie ihr 1895 an einer Festveranstaltung bescheinigt wird, der»Geist der Gerechtigkeit, der Aufklärung und Bildung,[...] zu des­sen Verbreitung im Volk sie mit allen Kräften beitrage.« 20 Dabei ist sich die Vossin bewusst,»daß es eine unfehlbare Wahrheit in weltlichen Dingen nicht giebt«. 21 Eben deshalb bedarf es der demokratischen Diskussion von Ideen und Interessen. Als entscheidend für ihr journalistisches Ethos gilt ihr, ganz im Sinne des großen Aufklärers Lessing, das unablässige» Stre­ben nach der Wahrheit, Duldsamkeit und muthiges Eintreten für die Ueber­zeugung«. 22 Kurz: die führende liberale Tageszeitung, eine Qualitätszeitung von höchstem Niveau,»das tonangebende deutsche Publikationsorgan« 23 und, ihrer politischen Grundhaltung nach,»freisinnig«. Nur ein halbes Jahr nach dem Scheitern der Umsturzvorlage im Reichs­tag nimmt Fontane die Arbeit an seinem letzten Roman auf. Die fatale Vor­lage selbst wird im Stechlin zwar keines Wortes gewürdigt. Doch»spukt« sie, wie Fontane in anderem Zusammenhang einmal formuliert hat, bestän­dig»hinter der Scene«. 24 Denn des Kaisers Königsberger Aufruf zum »Kampfe für Religion, für Sitte und Ordnung, gegen die Parteien des Um­sturzes!« blieb die unaufhörlich zitierte innenpolitische Parole der folgen­den Jahre; man lebte weiterhin in der»Ära der Umsturzvorlage«. 25 »Tag für Tag Beschlagnahmen, Verhaftungen, Majestätsprozesse!« ruft die Vossi­sche Zeitung aus. 26 »Wir fürchten, daß diese Art des Kampfes gegen den Umsturz verfehlt ist und daß in jede Lücke, die der Staatsanwalt wie der Strafrichter in die Sozialdemokratie reißt, kräftiger Nachwuchs tritt.« 27 Die klassenkämpferische Konfliktpolitik, die in der»Umsturzvorlage« zum Ausdruck kam, dieser reaktionäre Geist der Gewalt und Unterdrü­ckung, ja des staatlichen Terrors, wurde zum Auslöser für Fontanes Ro­manprojekt. Der Stechlin ist Fontanes Antwort auf den Repressionskurs der Regierung, auf die Verhärtung der Fronten, auf den rückwärtsgewandten »neuen« und»neuesten Kurs« des Kaisers. Der politischen Tat mit der Un­terschriftenaktion folgt mit der Stechlin-Dichtung die schriftstellerische Tat. Zwar ergreift Fontane das Wort nicht als kritischer Journalist oder po-