Heft 
(2016) 102
Seite
78
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78 Fontane Blätter 102 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte litischer Pamphletist, sondern als Romancier, als Verfasser eines Romans des poetischen Realismus. Aber der Stechlin sei, so hat er wiederholt und mit Nachdruck erklärt, ein»politischer Roman«. Nicht anders wurden auch Alfred Kerrs kulturhistorische Briefe aus der Reichshauptstadt unter dem Druck der Verhältnisse zunehmend zu»politischen« Briefen und legten Protest ein gegen des neuen Kaisers Willen zur Macht, die Selbstherrlich­keit der regierenden Adelskaste und die pomphaften Rituale des Wilhelmi­nismus. Eine besondere Eigenheit von Fontanes»politischem Roman« besteht darin, dass Abfassungszeit und erzählte Zeit nahezu identisch sind. Äuße­rungen verschiedener Romanfiguren, sie hätten»noch diese letzten Tage« (60) oder»grade heute wieder«(292) oder»neulich wieder«(435) von be­stimmten politischen Ereignissen in der Zeitung gelesen, 28 weisen unmiss­verständlich auf die geradezu»journalistische Aktualität« 29 der Stechlin ­Themen hin. Alltagswirklichkeit und Detailreichtum aber entsprechen der künstlerischen Konzeption: das Große im Kleinen, das Weltgeschichtliche im Alltäglichen. Dieses Konzept verleiht dem Roman seine atmosphärische Dichte, erschwert aber dem heutigen Leser den Zugang. Bei dieser Lage der Dinge lässt sich die Vossische Zeitung gleichsam als zeitgeschichtliches Le­xikon benutzen. Mit Hilfe der Vossin und weiterer zeitgenössischer Publi­zistik kann die konkrete historische Situation rekonstruiert werden, in wel­cher Fontane seinen Altersroman schrieb. Und erst vor diesem Hintergrund zeigt sich der Stechlin wieder in seiner ursprünglichen Gestalt, jedenfalls im ursprünglichen politisch-kulturellen Kräftefeld und Kontext. Der Stechlin ist jedoch kein naturalistischer Roman, auch kein Schlüs­selroman, sondern ein Roman des poetischen Realismus, freilich in einer ganz speziellen Variante. Es geht zwar um Geschichte, um»Geschichte von unten«. Die»großen Fragen« der Zeit finden ihren Reflex in den scheinbar spontanen Alltagsunterhaltungen bestimmter märkischer und berlinischer Adelskreise. Die Romanfiguren finden sich hineinversetzt in die Epoche eines säkularen Umbruchs, in die dramatische Spannung zwi­schen Alt und Neu, die sie hautnah miterleben und die sie zur Stellung­nahme nötigt. Bei den von Fontane dichterisch imaginierten Adelskreisen handelt es sich aber, abgesehen von Tante Adelheids abgeschottetem Klos­ter Wutz, um ebenso liebenswürdige wie originelle und aparte Lebenskrei­se, in denen die zeitgenössischen Entwicklungen in geistreich-heiterer Cau­serie kommentiert werden und so bei aller kritischen Schärfe zugleich poetischen Glanz gewinnen. Der unerschöpfliche Gesprächsstoff mit seinen unzähligen Anspie­lungen wird durch eine zentrale»Idee« strukturiert. Das Grundmuster, nach dem der»politische Roman« komponiert ist, ist augenscheinlich die häu­figste Fontanesche Kompositionsform, die Ringkomposition. Mit dem alles verbindenden Titel zusammen bilden Romananfang und Romanschluss