Heft 
(2016) 102
Seite
79
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Fontanes politischer Altersroman Der Stechlin Zuberbühler 79 ­gleichsam einen Ring, der das ganze Werk sowohl formal wie ideell ­zusammenhält. Durch diese Romananlage wird einerseits dem künstleri­schen Postulat»Abrundung« Genüge getan, und andererseits liefert dieser Grundriss den»Grundgedanken«, das»Leitmotiv«, die zentrale»Idee«, wel­che gemäß Fontanes Poetik einer realistischen Erzählung zugrundeliegen und zu deren»ideeller Durchdringung« führen muss. Diese»Idee« verkör­pert, in dichterischer Schau zum Symbol erhoben, der abgelegene märki­sche See mit seinen weltweiten Verbindungen. Im Stechlinsee ist Nietzsches epochale Forderung nach»Umwertung der Werte« in die Anschaulichkeit eines poetischen Bildes übertragen. II Wie wurde Fontanes eigenwilliger Epochenroman, der in Buchform erst nach seinem Tod erschien, in der Öffentlichkeit aufgenommen?»Das Urteil der Kritik«, resümiert Klaus-Peter Möller,»war einhellig: ›Der Stechlin‹ wurde allgemein als Meisterwerk anerkannt, mit dem ein bedeutender Schriftsteller sein Lebenswerk abschloß und krönte.« 30 Schon die Redakti­on der Stuttgarter Zeitschrift, in welcher der Vorabdruck erschien, hatte den Reichtum der Fontaneschen Menschenschöpfungen in einem Tele­gramm an den Autor ergriffen gewürdigt»am Schlusse im Innersten er­schüttert« und ihm dafür gedankt,»daß ›Ueber Land und Meer‹ ein sol­ches Werk veröffentlichen« durfte. 31 Ihren Lesern stellte sie den Stechlin als das»bedeutendste Werk Theodor Fontanes« vor, als sein»Glaubensbe­kenntnis« und die»Summe seiner Erfahrungen[...], die er in dieser Form für die jüngere Generation nutzbar zu machen sucht«, und sie wies auf die aktuelle politische Dimension des Romans hin, der»im Rahmen einer span­nenden Handlung vielfach Schlaglichter auf die politischen Vorgänge und sozialen Strömungen des verflossenen Jahrzehnts wirft.« 32 Doch»span­nend« im landläufigen Sinn war der Stechlin ja keineswegs. Die Schwierig­keiten, die die Lektüre anfänglich sogar einem zeitgenössischen Fontane­Verehrer bot, schildert Fritz Mauthner in seiner Rezension im Berliner Tageblatt anschaulich:»Wir genießen den ›Stechlin‹ langsamer, weniger ergriffen, mitunter kopfschüttelnd über das allzu behagliche Geplauder, wir legen das Buch ab und zu bei Seite, weil auch wir Anfangs nicht recht ›gespannt‹ sind auf die Fortsetzung, bis wir plötzlich gefaßt werden von einer Rührung, gegen die die gewöhnliche Poesiewirkung gar nicht auf­kommen kann, bis wir uns erschüttert sagen: das ist ja trotz alledem und alledem ein Fontane ersten Ranges, das ist nicht mehr und nicht weniger als das Testament Theodor Fontanes. Fontanes letzte Gedanken über Gott und die Welt, über Bismarck und den alten Fritz, über Preußen und die Mark Brandenburg, über die soziale Frage und über die Armee, über Mannes­seelen und über Frauenherzen.[...] Und am Ende haben wir gar etwas wie den Abschluß seiner Selbstbiographie vor uns.« 33