80 Fontane Blätter 102 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte Auch der Rezensent der Vossischen Zeitung, Paul Mahn, liest den Stechlin als Fontanes»Vermächtniß« und»Schlußwort«. 34 »Was im Einzelnen erörtert und verhandelt wird, entzieht sich in seiner Fülle und Mannigfaltigkeit, in seinen feinen Linien und zarten Tönen, in seinem herzhaften Ernst und seiner lockeren, eleganten Ironie jeder Wiedergabe. Das muß gelesen werden.« Deshalb konzentriert sich der Rezensent darauf, den»gemeinsamen Urquell« in den Blick zu fassen,»aus dem alles geflossen ist. Das ist das unendliche Allesbegreifen, das schmucklose, anspruchslose Geltenlassen der Dinge, das für Fontane das Charakteristischste ist. Wie der alte Herr jedem im Leben mit der gleichen milden Freundlichkeit, mit dem gleichen wohlwollenden Eingehen entgegentrat, dem es dennoch so wenig an echter Vornehmheit wie an Entschiedenheit und Standpunkt fehlte, so sieht er auch auf die eigenen Gestalten mit der Liebe dessen, dem nichts Menschliches fremd ist, der auch das verlorenste Menschenkind anknüpft an das große wehmüthige Erdenschicksal.« Aber es lebe in diesem skeptischen Dichter, so umschreibt der Rezensent das eigentlich»Fontanesche«, trotz allem im Grunde ein unbesiegbarer Glaube an das Leben.»Er stand im einzelnen Falle jenseit von Gut und Böse, um doch im Ganzen gleichsam instinktiv im Geiste einer eingeborenen Fortentwickelung zu leben. Das giebt all seinem Schaffen das Milde und Versöhnte, das Ausgeglichene und Stärkende.« Die zeitgeschichtliche und politische Dimension des Romans stand für die Rezensionen, die in beeindruckender Fülle erschienen, außer Frage: der Stechlin war ein»politischer Roman«, 35 »ein echt zeitgeschichtlicher Roman«, 36 »ein annähernd allseitiges Zeitgemälde«, 37 eine Antwort»der Charakterfiguren des märkischen Lebens« auf»die religiösen, politischen, sozialen Fragezeichen der Gegenwart«, 38 »eines der besten Kulturbilder der neunziger Jahre, vielleicht das beste und künstlerisch vollendetste«. 39 Nur die Akzente wurden verschieden gesetzt: bald auf die»›Verherrlichung‹ des Altpreußenthums und des norddeutschen Adels«, 40 bald auf das»Sterben des Junkerthums«, 41 bald auf den Anbruch einer neuen Zeit, 42 oder dann, wie in der Vossin, auf Fontanes»Allesbegreifen«. Die Romananlage indessen – die Ringkomposition und damit die zentrale Bedeutung des StechlinMotivs – war noch nicht erkannt, geschweige denn die diskrete Leserführung, die der Autor in seinem Roman übte. 43 Mit zunehmendem zeitlichem Abstand vom ausgehenden 19. Jahrhundert kamen jedoch andere Lesarten auf. Der junge Literarhistoriker Conrad Wandrey glaubte – in seiner Fontane-Monographie(1919) auf das Meisterwerk Effi Briest fixiert –, im Stechlin ein»Versagen der Gestaltungskraft« feststellen zu müssen. 44 Figurenzeichnung, Redeweise und Inhalt der Rede seien»nebulos«. 45 Dieses Alterswerk –»unpolitisch, wie Dubslav, wie Fontane selbst« 46 – lebe»vom Aussprechen lediglich gedachter Inhalte«, 47 werde»zum Fontanebrevier«. 48 Es war Thomas Mann, der mit Wandreys Behauptung:»kein politischer Roman« 49 zwar einig ging, auf den Vorwurf
Heft
(2016) 102
Seite
80
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