Heft 
(2016) 102
Seite
82
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82 Fontane Blätter 102 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte Politischen unmittelbarer auf den Menschen in allen seinen Lebensäuße­rungen zurückbezog«. 58 Doch das konkrete zeitkritische Potenzial des Ro­mans wurde von Max Rychner ebensowenig wahrgenommen wie von ­Julius Petersen. Wie kam es, dass das vom Dichter immer wieder betonte»politische« Anliegen des Stechlin, das Politische im engeren und eigentlichen Sinn, die entschiedene Kritik am wilhelminischen Staat und den staatstragenden Schichten, ein halbes Jahrhundert lang übersehen werden oder in den Hin­tergrund treten konnte? Das lag einmal an der versöhnlichen Grundstimmung dieses Alters­werks, das, einer Gesinnungsethik verpflichtet, zu einer bisweilen fast skru­pulös anmutenden Bemühung um historische Gerechtigkeit führte.»Selten hat einer mit größerer Umsicht, mit mehr Kautelen, mit mehr Bewußtsein von der Relativität der Dinge geschrieben als Fontane.« 59 Es lag weiter dar­an, dass immer noch ein breiter bildungsbürgerlicher Konsens darüber herrschte, dass die Dichtung, wie der Nobelpreisträger von 1910, Paul Hey­se, formulierte, das»allgemein Menschliche« in schöner Form zu gestalten habe, statt einer»sogenannten Aktualität« zu folgen. 60 Hinzu kam, dass man mit zunehmendem zeitlichem Abstand den präzisen Realitätsbezug der Fontaneschen Anspielungskunst aus den Augen verlor. Die patriotische Begeisterung beim Ausbruch des ersten Weltkrieges, der dem Volk gegen­über als aufgezwungener Verteidigungskrieg gerechtfertigt wurde, ließ die innenpolitischen Gräben zurücktreten und lenkte die aggressiven Ener­gien nach außen. Wilhelms II. pathetische Deklaration:»Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche« traf die Stimmung des Augen­blicks. 61 Die Erschütterungen der Zeit und erst recht der folgenden Jahr­zehnte legten sich wie eine Nebelwand vor die Vergangenheit. Charlotte Jolles´ maschinenschriftliche Dissertation Fontane und die Politik, die sich als»Beitrag zur Wesensbestimmung Theodor Fontanes« verstand, 62 ver­schwand wirkungslos im Magazin der Berliner Universitätsbibliothek. 63 Ein weiterer Grund für die einseitige Sicht war der Umstand, dass man Fontanes Briefe an Georg Friedlaender noch nicht kannte, diese Freund­schaftsbriefe, in denen der alte Fontane kein Blatt vor dem Mund nahm und nicht selten in emotionalen Ausbrüchen sein vernichtendes Urteil über die »altregierenden Klassen« fällte. Diese Briefe aber, im Jahr 1950 gerettet durch Friedlaenders Tochter Elisabeth bei ihrer Emigration aus der schle­sischen Heimat, konnten erst 1954 erscheinen, herausgegeben und erläutert von Kurt Schreinert. 64 Schreinerts Briefedition leitete die sogenannte ­Fontane-Renaissance ein, die sich nun auch an die Aufarbeitung des histo­rischen Kontextes machte, in dem Fontanes Romanwerk stand. Wie präsentiert sich demnach die Stechlin-Dichtung, über hundert Jahre nach ihrem Erscheinen, dem heutigen Leser? Mit ihrer Anteilnahme an Men­schen und Menschenschicksalen und dem Aufzeigen wahrer Humanität­