Fontanes politischer Altersroman Der Stechlin Zuberbühler 83 einerseits, der politischen Engagiertheit andererseits zeigt sie gewissermaßen ein doppeltes Gesicht. Der Erzähler versucht die Erfordernisse der zeitgeschichtlichen»Aktualität« und das»allgemein Menschliche« in Übereinstimmung zu bringen. Dieses Doppelantlitz des Stechlin macht sich schon im Brief an Adolf Hoffmann bemerkbar, den Direktor der Stuttgarter Verlagsanstalt, dem Fontane seinen Altersroman zum Vorabdruck im illustrierten Wochenblatt Über Land und Meer anbot und dabei sein Romankonzept von den Erwartungen des»großen Publikums« abhob, das von einem Roman eine möglichst spannende Story erwartete. 65 Die Stechlin-Handlung, die Fontane zugespitzt in den Satz zusammenfasst:»Zum Schluss stirbt ein Alter und zwei Junge heiraten sich« – eine Romanhandlung also, die den Menschen in den natürlichen Kreislauf des Lebens, diese ewige Wiederkehr des Gleichen, einordnet, kann, wie sich der Autor selbst illusionslos eingesteht, in ihrer unspektakulären Alltäglichkeit nicht mit der Gunst des Publikums rechnen. Deshalb sieht er sich genötigt, auf einem separaten Beiblatt eine»Inhaltsangabe« beizulegen, in der er das StechlinSymbol entwickelt und damit die politische»Idee, die sich einkleidet«, zum Zentrum seines Werks erklärt. Verbindung mit der»großen Weltbewegung« zu halten, am allgemeinen Kulturfortschritt der Menschheit teilzunehmen, das ist die Lehre, die der See,»klein und unbedeutend wie er ist«, dem rückständigen märkischen Lande und seiner Junker- und Militärkaste predigt.»Das Agrariertum« jedoch(der rechtsextreme agrarische Konservatismus) hat, wie der Dichter weiß,»kein Auge dafür, der echte Adel« hingegen – so darf man Fontanes bloß in Abschrift und bruchstückhaft erhaltene»Inhaltsangabe« wohl ergänzen – horcht auf,»wenn in der Welt draußen ›was los ist‹«. 66 Auch auf den besonderen Kunstcharakter seines Zeitromans weist Fontane im Brief an Adolf Hoffmann hin, wenn er, mit einer Mischung von Selbstbewusstsein und Understatement wiederum, bemerkt, dass»alles Plauderei, Dialog« sei und dass in zwei Lebenskreisen, einem altmodischen und einem neumodischen,»Gott und die Welt« durchgesprochen werde. Wenn es freilich darum geht, den eigentümlichen Ton dieser»Plaudereien« zu bestimmen, bleibt Thomas Manns Charakterisierung nach wie vor unübertroffen. Im Wettlauf mit dem nahenden Lebensende geschrieben, intoniert der Fontanesche Altersroman eine vielstimmige, wunderbare»Lebensmusik«. Das Menschenleben indessen, das von dieser»Lebensmusik« begleitet wird, ist untrennbar verquickt mit dem Zeitgeschehen. Fontanes Zeitroman verklärt nicht, oder doch nicht allein, das Ewig-Menschliche, und noch weniger ist er, wie Thomas Mann formulierte, fast nur noch ein »artistisches Spiel von Ton und Geist«, 67 das die bedrängenden Zeitprobleme sublimiert. Vielmehr ist der Stechlin zugleich gesellschaftskritisch und politisch interessiert und engagiert und deshalb auch gesättigt mit zeitgenössischer Politik, mit Geschichte, mit dem»Element ›Welt‹«. 68 Und erst
Heft
(2016) 102
Seite
83
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