Heft 
(2016) 102
Seite
88
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88 Fontane Blätter 102 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte deren Charme und Schicksal schon in ihrem Namen präfiguriert ist. Für Melusine ist es das traumatische Erlebnis im Eisenbahntunnel, das ihr ­Leben fortan bestimmt hat. Die Deutung dieses Tunnel-Erlebnisses ist in der Fontane-Forschung umstritten. Zu dessen Verständnis hilft nun zwar nicht die zeitgenössische Publizistik weiter, wohl aber die zeitgenössische Literatur. Eine entspre­chende Coupé-Szene war nämlich in einem Adelsroman des jungen Schrift­stellers Ernst von Wolzogen in naturalistischer Direktheit schon vorweg­genommen. Sein Roman, der wie Fontanes Stechlin den Egoismus des zeitgenössischen Adels anprangerte und 1895 im Verlag Friedrich Fontane erschien, trug den bezeichnenden Titel Ecce ego . Erst komme ich! und war »in dankbarer Verehrung« Theodor Fontane gewidmet,»dem«, wie es heißt,»rüstigen Vorbildner und Vorkämpfer unserer jungen Kunst, dem Meister des märkischen Romans«. Fontane las Wolzogens neuestes Werk unmittelbar bevor er die Arbeit am Stechlin aufnahm und äußerte sich ins­gesamt anerkennend darüber. 72 Die Szene, die sich in Ecce ego im Eisen­bahncoupé zwischen den beiden frisch Vermählten, dem mittellosen adli­gen Gutsbesitzer Aribert und der vermögenden bürgerlichen Charlotte, abspielt, hat Fontane allem Anschein nach zur Tunnel-Szene im Stechlin inspiriert. Bei Wolzogen lesen wir: »Und sie stiegen ein und waren allein kein Mensch weiter in dem gan­zen Wagen. Aribert schloß die Thür und zog die Vorhänge zu. Und als nach weiteren zehn Minuten endlich der Schaffner kam, um die Billete einzuzwi­cken, da rückte die junge Dame gar so schnell in die entfernteste Ecke und schaute so angelegentlich zum entgegengesetzten Fenster hinaus. Ach Gott, wenn der Mann nur nichts gemerkt hatte! Das Hütchen saß ihr ganz hintenüber, die Frisur war auseinandergegangen und hing wirr bis halb auf den Rücken hinab und das Ohrläppchen und das Stückchen Wange wie die glühten! Natürlich hatte der Mann etwas gemerkt; und als ihm ­Aribert mit bedeutungsvollem Augenzwinkern einen Thaler in die Hand gleiten ließ, da wusste er erst recht Bescheid, und sagte verschmitzt grin­send: ›Herr Baron können ganz ruhig sein, hier kömmt keiner rein.« 73 Das führt bei Wolzogen zum ersten Ehekrach.»Ach, Charlotte mußte nun wohl einsehen, daß sie sich in diesem Menschen getäuscht hatte und in sich selber auch! Wie das doch erniedrigt, was man so Liebe nennt!« 74 Die erzählten Lebensschicksale haben auch ihre»politische« Seite. ­Dublavs Scheitern in der Reichstagswahl, sein Tod und der Einzug des jun­gen Ehepaars auf Schloss Stechlin markieren das Ende einer durch das preußische Junkertum geprägten Epoche. Armgards glückliche Heiratsge­schichte zeigt mit Woldemars Noblesse und Warten-können den»Adel, wie er bei uns sein sollte«, die gegenteilige Erfahrung der jungen Gräfin ­Melusine den Adel,»wie er ist«. 75 Bei ihr hinterlassen der Tunnelschock, die kurze Ehe und die Scheidung eine bleibende seelische Verletzung. Ihre