Fontanes politischer Altersroman Der Stechlin Zuberbühler 89 Liebenswürdigkeit ist einem harten Schicksal abgewonnen. In einer Art Beichte vor Pastor Lorenzen bekennt Melusine jedoch, demütig geworden, dass sie glaubt,»dem Tage nahe« zu sein, an dem auch sie mit dem Leben und seinen Enttäuschungen versöhnt sein wird(319). Und ihre Demut gewinnt auch eine politische Dimension – »weil sie mit dem Egoismus aufräumt.[...] Und soviel bleibt, es birgt sich in ihr die Lösung jeder Frage, die jetzt die Welt bewegt. Demütig sein heißt christlich sein[...]. Demut erschrickt vor dem zweierlei Maß. Wer demütig ist, der ist duldsam, weil er weiß, wie sehr er selbst der Duldsamkeit bedarf; wer demütig ist, der sieht die Scheidewände fallen und erblickt den Menschen im Menschen.«(319 f.) V Was waren das für Fragen, die damals»die Welt bewegten«? Der Stechlin, im letzten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts entstanden, im»fin de siecle«, entfaltet ein umfassendes Epochenbild, das Bild einer politischen und kulturellen Umbruchsituation, in der Altes und Neues, eingewurzelte Traditionen und neueste Entwicklungen, trotziges Beharren und stürmischer Aufbruch zu neuen Horizonten in schroffen Widerstreit zueinander traten und zur Entscheidung drängten. Für die Vossin war das 19. Jahrhundert der kulturelle Gipfel der bisherigen Menschheitsgeschichte. Als im Februar 1896 die(irrtümliche) telegraphische Nachricht aus Irkutsk nach Europa gelangte, Fridtjof Nansen habe sein Ziel, den Nordpol, erreicht und befinde sich auf dem Rückweg, nahm das die Vossische Zeitung zum Anlass, den kulturellen Stellenwert des 19. Jahrhunderts in der Weltgeschichte zu bestimmen und zu einem Preis des Zeitalters der Erfindungen und Entdeckungen auszuholen, welche fruchtbar gemacht werden könnten zum»geistigen und materiellen« Fortschritt der Menschheit. »Die Naturwissenschaften nahmen einen gewaltigen Aufschwung und beeinflußten das öffentliche Leben in der mannigfaltigsten Weise. Eisenbahnen, Telegraph, Dampfmaschinen, Telephon, Photographie, Elektrizität, sind nur einige der hervorragendsten Mittel gewesen, die Kulturmenschheit in neue Bahnen zu weisen und vor neue Aufgaben zu stellen. Daneben gingen die wichtigsten Entdeckungen zur wissenschaftlichen Erforschung des Universums. Die Spektralanalyse gab uns die Möglichkeit, mit neuen Mitteln und vollkommenster Gründlichkeit die Zusammensetzung der Weltkörper zu untersuchen.[...] Damit ging Hand in Hand eine genauere Erforschung unseres Erdballes.[...] Die Entdeckung des Nordpols würde diese Forscherthätigkeit der Menschheit des 19. Jahrhunderts krönen.« 76 Die wissenschaftliche, technische und industrielle Revolution, die sich in diesem Jahrhundert Schlag auf Schlag vollzog, war in der Tat atemberaubend. 1869 wurde, nach zehnjähriger Bauzeit, der Suezkanal eröffnet. Im
Heft
(2016) 102
Seite
89
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