90 Fontane Blätter 102 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte Jahr darauf nahm die Indo-Europäische Telegraphenlinie von London über Teheran nach Kalkutta den Betrieb auf – erstellt von den drei Firmen der Gebrüder Siemens, der Londoner, der Berliner und der Petersburger Firma. 1874 verlegten»Siemens Brothers« mit einem Spezialschiff ein Transatlantikkabel. 1876 wurde in Amerika die Erfindung des Telefons patentiert. Zwei Jahre später präsentierte Werner Siemens die erste elektrische Lokomotive; 1880 konstruierte er den ersten elektrischen Aufzug; 1881 erprobte er in Lichterfelde die erste elektrische Straßenbahnlinie der Welt. Im Jahr 1882 wurde der Gotthardtunnel dem Verkehr übergeben. Man feierte die Gotthardbahn als modernes Weltwunder und nannte sie in einem Atemzug mit dem Suezkanal und den Pyramiden. Gleichzeitig wurden die Arbeiten zur Untertunnelung des Ärmelkanals in Angriff genommen, sowohl von der englischen wie von der französischen Seite her; sie mussten jedoch infolge militärischer Bedenken Englands eingestellt werden. Am 8. April 1895 gelangten Nansen und sein Begleiter Johansen beim Versuch, von der »Fram« aus mit Schlitten den Nordpol zu erreichen, wenigstens bis auf 364 Kilometer an ihr Ziel heran. 1896 wurde in Berlin der erste Film gezeigt, teilweise bereits mit Szenen in Farbe. Und in eben diesem Jahr entdeckte Wilhelm Röntgen in Würzburg die nach ihm benannten Röntgenstrahlen. Dem jungen Marconi gelang im folgenden Jahr in London der Durchbruch zur drahtlosen Telegraphie. Industrialisierung, Eisenbahn und Elektrizität, Telegraph und Telefon, Welthandel und Weltverkehr veränderten das Lebensgefühl von Grund auf. Mit dem Eintritt der Menschheit in das naturwissenschaftliche Zeitalter setzte auch eine unheimliche Beschleunigung der Zeit ein. Man sprach von der»schnelllebigen Zeit«, 77 von der»Beschleunigung des Lebenstempos«, 78 bei welchem man»zum Durchlesen ernsthafter Bücher keine Zeit und keine Ruhe« mehr habe. 79 Das Leben werde»hastiger und immer hastiger, man ist nicht mehr bei sich zu Hause, wird nicht heimisch und kommt nicht zu sich selbst, deshalb hat auch die Eisenbahnzeit über die Ortszeit gesiegt« 80 – die Weltzeit über die Lokalzeit. So Theobald Ziegler, der authentische Chronist des 19. Jahrhunderts. Die angedeuteten Umwälzungen, Errungenschaften und Konflikte finden auch in Fontanes Epochenroman ihren Niederschlag. Die Akzeleration der Zeit beispielsweise hält des alten Dubslavs Bonmot fest:»Seit wir die Eisenbahnen haben, laufen die Pferde schlechter«(296). Über die Zeitverschiebungen auf dem Globus spöttelt er:»Beinahe komisch. Als Anno siebzig die Pariser Septemberrevolution ausbrach, wußte man´s in Amerika drüben um ein paar Stunden früher, als die Revolution überhaupt da war« (29). Auch bei der Erörterung von Nansens tollkühner Forschungsexpedition, einem»Bravourstück«, für das er zwar durchaus Sinn zu haben behauptet, kann er sich einen gewissen belustigten Unterton nicht versagen(405 f.). Über Krippenstapels»Prioritätswahnsinn« ergießt er im Gespräch mit
Heft
(2016) 102
Seite
90
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