Issue 
(2016) 102
Page
92
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92 Fontane Blätter 102 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte immer größerer Reichtum an Kapital, Vervollkommnung der Technik, Fort­schreiten von Handel und Wandel, von ­Verkehr und Industrie, allgemeines Prosperieren der Geschäfte, ein selbst die kühnste Phantasie übersteigen­des Blühen und Gedeihen.« 84 Ein Paradebeispiel für dieses beispiellose Pro­sperieren, Blühen und Gedeihen ist die Reichshauptstadt Berlin. Durch die Reichsgründung und die milliardenschweren französischen Kriegsent­schädigungen erhielt sie einen zusätzlichen Wachstumsschub. Die Stadt, in der der kaiserliche Hof residierte und in welcher der Reichstag, die meisten Reichsbehörden und die wichtigsten Institutionen Preußens ihren Sitz hat­ten, avancierte auch zum wichtigsten Handels-, Industrie-, Banken- und Pressezentrum Deutschlands. Der Satz»Berlin wird Weltstadt« spricht das Lebensgefühl der jungen Metropole aus. Zu deren augenfälligsten Merk­malen zählte die fortschreitende Veränderung der Stadt und ihrer Umge­bung, hervorgerufen durch ein geradezu explosives Bevölkerungswachs­tum; alljährlich nahm die Einwohnerzahl um fast 50.000 zu. Das zog eine exzessive Bautätigkeit und Verkehrszunahme nach sich; man muss sich die Reichshauptstadt als eine permanente Baustelle vorstellen. Auch nicht we­niger als 42 Kirchen wurden im ersten Jahrzehnt der Regierungszeit Wil­helms II. in Berlin und Umgebung vollendet nach Alfred Kerrs spitzer Bemerkung von nichts anderem geleitet als vom Bemühen,»den mangeln­den Kirchenbesuch an immer zahlreicheren Neubauten zu erweisen.« 85 Wirtschaftspolitisch gesehen, ist das auslaufende 19. Jahrhundert die Hochblüte des Konkurrenz-Kapitalismus. Es ist die Zeit der großen Trusts, der Großunternehmer und der Superreichen: die Zeit der Rockefellers, der Vanderbilts, der Rothschilds. Eine neue Wirtschafts- und Geldaristokratie ist entstanden. Man spricht von»Plutokratie«, von»Bankokratie«. Der be­kannteste deutsche Publizist jener Zeit, Maximilian Harden, nennt seine Epoche»eine Zeit, die das Geld zum einzigen Werthmesser erhöht hat«. 86 »Die Bewunderung unserer Zeit«, behauptet ebenso eine zeitgenössische Schriftstellerin, Laura Marholm,»gehört dem glücklichen Spekulanten, ob er nun ein amerikanischer Petroleumkönig, ein Berliner Börsenspieler oder ein internationaler Getreidewucherer ist.« 87 Die ganze Epoche, fährt sie fort, stehe im Zeichen des Imperativs»Schnell reich werden«; in England und Amerika seien der Geldmensch und der Sportmensch die wirklichen Repräsentanten des Mannes. 88 All diese Kritik ändert aber nichts daran, dass die englische Sprache mitsamt ihren weltanschaulichen Implikationen »auf dem besten Wege« ist, wie es heißt,»Universalsprache zu werden«. 89 Das wirtschaftliche Konkurrenz-System, lautet ein weiterer Kritik­punkt, habe zur Monopolstellung einiger weniger den Weltmarkt beherr­schenden Weltfirmen geführt und zur»Etablirung des wirthschaftlichen Faustrechtes«; es könne daher, wie die pessimistische Voraussage ganz in marxistischem Sinne lautet, nur»mit der absoluten wirthschaftlichen