Issue 
(2016) 102
Page
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Fontanes politischer Altersroman Der Stechlin Zuberbühler 93 Knechtung der arbeitenden Menschheit durch die zuletzt übrig bleibenden wirthschaftlich Mächtigsten enden«. 90 Damit rücken auch die Schatten­seiten dieses Konkurrenzsystems in den Blick: die»soziale Frage«, die Ar­beits- und Lebensbedingungen der Arbeiterschaft. Die systemimmanenten negativen Folgen für die Arbeitnehmer wurden zwar im Deutschen Reich etwas gemildert durch eine große Errungenschaft: Bismarcks Arbeiterver­sicherung, das heißt ein Versicherungswerk gegen Krankheit, Unfall, Alter und Invalidität(von den Liberalen übrigens abgelehnt als»Staatssozialis­mus«). Eine Arbeitslosenversicherung war freilich nicht vorgesehen; für die Anstellung und die Anstellungsbedingungen galt immer noch das harte Gesetz von Angebot und Nachfrage; die tägliche Arbeitszeit betrug vielfach noch zwölf Stunden und mehr. Die sozialdemokratische Partei, die Partei mit dem weitaus größten Wähleranteil, kämpfte, wie bekannt, für die Be­freiung von Ausbeutung und Unterdrückung, und als Lösung des gordi­schen Knotens galt ihr die Überführung der privaten Produktion und»Pro­duktionsmittel« in gesellschaftliches Eigentum. Dass aber im damaligen Deutschen Reich die Gefahr eines sozialisti­schen Umsturzes bestanden hätte, wird von der Vossischen Zeitung ent­schieden verneint. In der sozialdemokratischen Partei hatten sich zwei Flü­gel herausgebildet, ein rechter und ein linker, ein dogmatisch-revolutionärer und ein sozialreformerischer. Zu den sozialreformerischen Postulaten ge­hörten Forderungen wie das»Wahl- und Stimmrecht[...] aller über zwanzig Jahre alten Reichsangehörigen ohne Unterschied des Geschlechts«(stimm­berechtigt waren im Deutschen Reich auch die Männer erst mit 25 Jahren) und überhaupt die»Abschaffung aller Gesetze, welche die Frau[...] gegen­über dem Manne benachteiligen«. 91 In der Praxis bekannte sich die sozialdemokratische Führung zur Lega­lität und einer nicht gewaltsamen Realpolitik. Die Theorie zwar prophezeite den baldigen Zusammenbruch der bestehenden Gesellschaftsordnung, den »großen Kladderadatsch«, wie Bebel, der führende Kopf der Sozialdemo­kraten, zu sagen pflegte. Infolgedessen erwartete man die Revolution ohne revolutionäre Aktivitäten; verbal gab man sich radikal, betrieb aber eine nicht-radikale Praxis. Die Vossische Zeitung sicherte dem pragmatischen Vorgehen ihre Unterstützung zu.»Man muss sich nach Möglichkeit bemü­hen, mit der Sozialdemokratie zur Verbesserung der Lage der Arbeiter zu­sammenzuwirken und die Unzufriedenheit thunlichst zu heben.« 92 Für den autokratischen deutschen Kaiser dagegen ist die aufbegehrende Sozialde­mokratie, so oder so, die»vaterlandslose« und gottlose Revolutionspartei schlechthin, die es mit allen Mitteln zu bekämpfen gilt, eine»Pest«, die, wie er verkündet,»ausgerottet« werden muss»bis auf den letzten Stumpf«. 93