Fontanes politischer Altersroman Der Stechlin Zuberbühler 93 Knechtung der arbeitenden Menschheit durch die zuletzt übrig bleibenden wirthschaftlich Mächtigsten enden«. 90 Damit rücken auch die Schattenseiten dieses Konkurrenzsystems in den Blick: die»soziale Frage«, die Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiterschaft. Die systemimmanenten negativen Folgen für die Arbeitnehmer wurden zwar im Deutschen Reich etwas gemildert durch eine große Errungenschaft: Bismarcks Arbeiterversicherung, das heißt ein Versicherungswerk gegen Krankheit, Unfall, Alter und Invalidität(von den Liberalen übrigens abgelehnt – als»Staatssozialismus«). Eine Arbeitslosenversicherung war freilich nicht vorgesehen; für die Anstellung und die Anstellungsbedingungen galt immer noch das harte Gesetz von Angebot und Nachfrage; die tägliche Arbeitszeit betrug vielfach noch zwölf Stunden und mehr. Die sozialdemokratische Partei, die Partei mit dem weitaus größten Wähleranteil, kämpfte, wie bekannt, für die Befreiung von Ausbeutung und Unterdrückung, und als Lösung des gordischen Knotens galt ihr die Überführung der privaten Produktion und»Produktionsmittel« in gesellschaftliches Eigentum. Dass aber im damaligen Deutschen Reich die Gefahr eines sozialistischen Umsturzes bestanden hätte, wird von der Vossischen Zeitung entschieden verneint. In der sozialdemokratischen Partei hatten sich zwei Flügel herausgebildet, ein rechter und ein linker, ein dogmatisch-revolutionärer und ein sozialreformerischer. Zu den sozialreformerischen Postulaten gehörten Forderungen wie das»Wahl- und Stimmrecht[...] aller über zwanzig Jahre alten Reichsangehörigen ohne Unterschied des Geschlechts«(stimmberechtigt waren im Deutschen Reich auch die Männer erst mit 25 Jahren) und überhaupt die»Abschaffung aller Gesetze, welche die Frau[...] gegenüber dem Manne benachteiligen«. 91 In der Praxis bekannte sich die sozialdemokratische Führung zur Legalität und einer nicht gewaltsamen Realpolitik. Die Theorie zwar prophezeite den baldigen Zusammenbruch der bestehenden Gesellschaftsordnung, den »großen Kladderadatsch«, wie Bebel, der führende Kopf der Sozialdemokraten, zu sagen pflegte. Infolgedessen erwartete man die Revolution ohne revolutionäre Aktivitäten; verbal gab man sich radikal, betrieb aber eine nicht-radikale Praxis. Die Vossische Zeitung sicherte dem pragmatischen Vorgehen ihre Unterstützung zu.»Man muss sich nach Möglichkeit bemühen, mit der Sozialdemokratie zur Verbesserung der Lage der Arbeiter zusammenzuwirken und die Unzufriedenheit thunlichst zu heben.« 92 Für den autokratischen deutschen Kaiser dagegen ist die aufbegehrende Sozialdemokratie, so oder so, die»vaterlandslose« und gottlose Revolutionspartei schlechthin, die es mit allen Mitteln zu bekämpfen gilt, eine»Pest«, die, wie er verkündet,»ausgerottet« werden muss»bis auf den letzten Stumpf«. 93
Heft
(2016) 102
Seite
93
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