Heft 
(2016) 102
Seite
94
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94 Fontane Blätter 102 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte VI Auf der einen Seite also Triumph des Liberalismus und Kapitalismus, Welt­handel und Weltverkehr, Wohlstand und Reichtum für breite Schichten, wissenschaftlicher, technischer, wirtschaftlicher Fortschritt, ein demokra­tisch gewählter Reichstag und eine»verantwortliche Regierung«, das un­aufhaltsame Anwachsen der sozialdemokratischen Bewegung, die»soziale Frage« als die wichtigste Frage der Zeit, liberale und sozialdemokratische Reformideen, die weit ins 20. Jahrhundert vorausgreifen auf der anderen Seite ein krasser»Byzantinismus«: die ungebrochene Macht der altregie­renden Junkerkaste, welche, einzig auf Machterhalt bedacht, in der Verwal­tung und im Militär dominiert und sich mit der westfälischen Schwerindus­trie verbündet, und zuoberst auf der Gesellschaftspyramide ein Kaiser, der seine Macht auf eben diese Junkerkaste stützt, der oberste Kriegsherr, der den Militarismus zur Staatsideologie erhebt, der Repräsentant eines Ein­Mann-Systems von Gottes Gnaden, der jede Demokratisierung und Öff­nung blockiert und sein persönliches Machtzentrum in der Haupt- und Re­sidenzstadt Berlin in einem pompösen Hofstaat organisiert und sich anschickt, ein neo-absolutistisches Regiment über seine Untertanen zu ins­tallieren. Es handelt sich bei dieser»signatura temporis« um den unver­söhnlichen Konflikt zwischen Alt und Neu, Mittelalter und Moderne, zwi­schen anachronistischen politischen Strukturen und Politik einerseits und den Ansprüchen einer hochentwickelten technischen und ökonomischen Zivilisation andererseits. Das entspricht Ernst Blochs bekannter Formel von der»Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«. 94 »Unzufriedenheit« ist deshalb das Stichwort für die herrschende Stimmung im Lande.»Die Un­zufriedenheit, und zwar nicht so sehr die wirthschaftliche als die politi­sche, ist der Nährboden der Sozialdemokratie, der Unwille über politische Mißstände und verfehlte Maßregeln treibt Tausende in das sozialdemokra­tische Lager, wiewohl sie über sozialistische Utopien die Achsel zucken.« 95 So noch einmal die Vossische Zeitung. Die um sich greifende»Unzufriedenheit« ist, wie gezeigt, auch zum Aus­löser von Fontanes»politischem Roman« geworden. Angesichts der herr­schenden Adelskaste mit ihrer in Fontanes Worten!»schaudervollen Mi­schung von Bornirtheit, Dünkel, Selbstsucht« 96 schlägt des Dichters bisherige Liebe zum alten märkischen Adel, seine»unglückliche Liebe«, 97 in Empörung um. Die Hohenzollern-Monarchie selbst wird zwar vom loyalen alten Dichter nicht in Frage gestellt, der narzisstische Machttrieb des jun­gen Kaisers ist von ihm unterschätzt worden. 98 Doch dem bornierten, ein­gebildeten, egoistischen Adel»vom neuesten Datum«(439) hält der Dichter im Stechlin noch einmal seine Vision eines wahren Adels entgegen, für den er nach seiner konservativen Wende zeitlebens eingetreten war, den er in seinen Wanderungen verherrlicht hatte, eines Adels, dessen Aufgabe es wäre, auf der Höhe der Zeit zu stehen und vorbildliches Menschentum auch