Fontanes politischer Altersroman Der Stechlin Zuberbühler 95 in dem modernen zeitgeschichtlichen Umfeld zu bewähren. Richtig verstandener Adel, so wiederholt Fontane immer wieder,»muß eine Bedeutung haben für das Ganze, muß Vorbilder stellen, große Beispiele geben und entweder durch geistig moralische Qualitäten direkt wirken oder« – was er auch gelten lässt –»diese Qualitäten aus reichen Mitteln unterstützen.« 99 In Fontanes Altersroman steht deshalb die gesamte Romanwelt im Zeichen des Stechlin-Symbols. Der abgelegene Stechlinsee, der seismographisch mit dem ganzen Erdball in Verbindung steht und das formale wie ideelle Zentrum des Romans bildet, ist, modern gesprochen, der große Natur-Telegraph, der die Kommunikation des weltabgeschiedenen märkischen Waldwinkels mit der weiten Welt aufrechterhält. In der Weltoffenheit dieses Sees erfüllt sich die Forderung nach einer»Umwertung der Werte« – freilich in Fontanes, nicht in Nietzsches Sinn. Was demnach vor allem nottut, ist, dass man sich nicht, wie die herrschende Schicht in Preußen, der ostelbische Adel, vom großen Lebenszusammenhang abkoppelt und sich damit von der Menschheitsentwicklung ausschließt. Im Gegensatz dazu ist in den Stechlin-Gesprächen die ganze Welt präsent, von China bis Afrika, von Petersburg über London bis New York. Die Biographie des Grafen Barby hat einen kosmopolitischen Zuschnitt. Geboren in der Mark Brandenburg, und zwar, wie Bismarck,»auf einem der an der mittleren Elbe gelegenen[...] Güter«(144), weilte der Graf nach einem schweren militärischen Reitunfall im internationalen Kurort Bad Ragaz zur Erholung und lernte im Bündnerland seine künftige Frau, eine schweizerische Freiherrentochter, kennen. Es folgten die zwei Jahrzehnte als preußischer Botschaftsrat in London; nach dem Tod seiner Gattin nahm Graf Barby mit seinen beiden Töchtern Wohnsitz in Florenz, wo auch Melusine ihre kurze Ehe durchlitt; und schließlich ließen sich die Barbys in Berlin nieder. Melusines und Armgards verstorbene Mutter war also Schweizerin, und es ist kein Zufall, dass der Lebensweg des Diplomaten in die Schweiz und nach England führte: die damalige Schweizerische Eidgenossenschaft, neben Frankreich die einzige Republik in Europa, wird im Roman ein»freies Land« genannt(188); und der Name Armgard erinnert an eine wichtige Figur in Schillers Wilhelm Tell, die sich mutig für Recht und Gerechtigkeit einsetzt(136). 100 Und England, meint auch der alte Dubslav, sei»nun doch mal das vorbildliche Land, eigentlich für alle Parteien, auch für die Konservativen, die dort ihr Ideal mindestens ebenso gut verwirklicht fänden wie die Liberalen.«(301) Durchgehend vollzieht der Roman eine grundlegende»Umwertung«. Zielscheibe der Kritik sind die tragenden Säulen des preußischen Staats: »Luthertum, Adel, Armee«. 101 Denn das ostelbische Junkertum, der Adel, »wie er ist«, sperrt sich gegen jegliche Veränderung und bleibt, wie die Vossin an der»sogenannten Geburtsaristokratie« sarkastisch feststellt, immer derselbe.»Es giebt keine Bevölkerungsklasse, die mit solcher Zähigkeit
Heft
(2016) 102
Seite
95
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