Heft 
(2016) 102
Seite
96
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96 Fontane Blätter 102 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte die Anschauungen und Gewohnheiten früherer Jahrhunderte in die Ge­genwart hinübergetragen hätte, wie die Klasse der Junker.« 102 Ihre anmaßende Anspruchshaltung rechtfertigen die alten Adelsfami­lien mit ihrer angeblichen Unersetzlichkeit für den Staat(324). Als»herr­schende Klasse« erheben sie Anspruch auf die maßgebenden Staatsstellen und die Schalthebel der Macht und ineins damit auf ein»standesgemäßes Einkommen«. In ihrer Eigenschaft als vorgeblich»Staatserhaltende« und die»Stützen der Monarchie« verlangen sie deshalb nicht nur, wie die Vossi­sche Zeitung unermüdlich anprangert, dass ihnen»die besten Aemter und Offiziersstellen, die einträglichsten Pfründen zufallen«, 103 sondern auch, dass ihre Landwirtschaft vom Staat subventioniert wird. Die sonst so maß­volle Vossin spricht von»Bacchanalien junkerlicher Selbstsucht«. 104 Für die herrschende Schicht bedeutete jede Veränderung der bestehen­den»Ordnung«, die sich ja als Abbild der»göttlichen Weltordnung« legiti­mierte, geradezu den Weltuntergang. Zu ihrer Verteidigung hatte die preu­ßische Staatsmacht einen gnadenlosen Kampf gegen alle»revolutionären Bestrebungen im Lande« aufgenommen. Polizei und Staatsanwalt be­herrschten die Situation. Unter Berufung auf ein Vereinsgesetz aus der fins­tersten Reaktionszeit wurde der sozialdemokratische Parteivorstand aufge­löst. Auch radikale»Demokraten« gerieten wieder ins Visier der Polizei (431). Neue Theaterstücke wurden vor der Aufführung einer rigorosen Zen­sur unterzogen. Zahllose Majestätsbeleidigungsprozesse vergifteten das politische Klima. 105 Denunziantentum breitete sich aus.»Mitunter«, schreibt die Vossische Zeitung vielsagend, werde»man an die Zustände in der römi­schen Kaiserzeit erinnert«. 106 Dubslav fühlt sich deshalb veranlasst, seinen Pastor, der den Stechlinsee scherzhaft zu einem»richtigen Revolutionär« erklärt hatte, zur Zurückhaltung zu ermahnen(62). Für die politische Eis­zeit aber, die in Preußen herrschte, findet der Stechlin-Dichter ein spre­chendes Symbol: der Stechlinsee ist zugefroren. Als die beiden Barbyschen Damen in den Weihnachtstagen Schloss Stechlin besuchen, bedeckt eine »zwei Fuß«(!) dicke Eisschicht den legendären See und verwehrt ihm alles Brodeln und Strudeln, vom Auftauchen des roten Hahns nicht zu reden. »Das Eis macht still und duckt das Revolutionäre.«(315) Unumwunden spricht die Vossische Zeitung vom»Polizeistaat«, in den man im Deutschen Reich zurücksteure. 107 In Fontanes Alterslyrik spiegeln sich die Zustände einmal unvermittelt in der Frage:»Gibt es so was wie Fortschritt auf Erden/ Oder werden wir alle russisch werden«? 108 Das Fazit, wie es selbst die Konservative Monatsschrift zieht, lautet:»Wir gehen[...] einer Diktatur des Staatsanwalts entgegen, und diese wird die unerträg­lichste von allen Diktaturen sein, weil sie nicht offen die Gewalt als Gewalt giebt, sondern die Willkür mit einem Scheine, wenn nicht des Rechts, so doch der Juristerei umkleidet.« 109 Das Charakterporträt des konzilianten Stechliner Schlossherrn aber, der sich energisch gegen»Polizeimaßregeln«