Fontanes politischer Altersroman Der Stechlin Zuberbühler 99 Gewiss kommt Fontane mit seinem»ganz freien Sinn« der bürgerlich-freiheitlichen Ideenwelt der»Vossischen Zeitung« erstaunlich nahe. Anders aber denkt er über den harten Kern ihres Liberalismus, ihr der freien Marktwirtschaft verpflichtetes ökonomisches Fundament. In der Kritik am Manchesterliberalismus geht der Stechlin-Dichter, der sich nunmehr zu einem»veredelten Bebel- und Stöckerthum« bekennt, 117 mit dem Protagonisten seines Bekenntnisromans einig. Als Korrektiv zur»schrankenlosen Freiheit« hat deshalb Dubslavs Gesinnung einen zweiten, komplementären Schwerpunkt: die Liebe, die Menschenliebe, die sich in sozialem Verhalten äußert und als sein unausgesprochenes christliches»Bekenntnis« gelten darf(449). Dubslavs von Menschenliebe motiviertes soziales»Tun« wird im Roman auch vor Augen geführt und nicht bloß behauptet – in seinem Engagement für einen guten Schulunterricht zum Beispiel oder in seinem rührenden Bemühen um Anregung, Unterhaltung und Bildung des aufgeweckten Proletarierkindes Agnes. Politisch bleibt der alte Major a.D. Dubslav von Stechlin freilich bis zuletzt seiner konservativen Sicht der Dinge treu. Doch die parteipolitischen Standpunkte der Hauptfiguren werden in Fontanes Altersroman ihrer Einseitigkeit entkleidet und einander angenähert. So ist Dubslav zwar nicht »für die patentierte Freiheit der Parteiliberalen, aber«, wie er Graf Barby gegenüber gesteht,»doch für ein bestimmtes Maß von Freiheit überhaupt« (363). Außerdem hat er – wie»die richtigen Junker alle« –, ohne sich dessen bewusst zu sein, auch»ein Stück Sozialdemokratie« im Leib(244) und äußert sich, durch den fortschreitenden Prozess der Industrialisierung provoziert, einmal in beinah sozialdemokratischem Sinn(80). Dem liberalen Grafen Barby andererseits, der seine Hoffnungen auf den frühverstorbenen Kaiser Friedrich III. setzte(363), soll trotz seines Liberalismus»noch so was von ›Gottesgnadenschaft‹ in den Knochen« stecken(244). Im politischen Figurenspektrum des Romans ist dem Stechliner Schlossherrn auch der christlich-soziale Pastor Lorenzen zur Seite gestellt. Trotz ihrer verschiedenen politischen Ansichten sind sich beide, der Landjunker wie der Landgeistliche, in Liebe zugetan, ja der Pastor ist voller Verehrung für seinen kirchlichen»Patron«. Von Woldemar wird Lorenzen, sein ehemaliger Lehrer und jetziger Freund, als Angehöriger eines neuen Geistesund Gesinnungsadels eingeführt(183). Mit Pastor Lorenzen fließt wiederum die zeitgeschichtliche Aktualität, wenn auch dichterisch»veredelt«, in ganzer Breite in den»politischen Roman« ein. Lorenzens»Ideal« ist Joao de Deus, ein in seiner portugiesischen Heimat gefeierter und populärer, inzwischen –»aber seit kurzem erst«(185) – verstorbener Lyriker, Pädagoge und Philanthrop, der sich für die Volksbildung einsetzte, mit seinem Vermögen die Bedürftigen unterstützte und arme Kinder unentgeltlich unterrichtete und förderte. In einem
Heft
(2016) 102
Seite
99
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