Heft 
(2016) 102
Seite
99
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Fontanes politischer Altersroman Der Stechlin Zuberbühler 99 Gewiss kommt Fontane mit seinem»ganz freien Sinn« der bürgerlich-frei­heitlichen Ideenwelt der»Vossischen Zeitung« erstaunlich nahe. Anders aber denkt er über den harten Kern ihres Liberalismus, ihr der freien Marktwirtschaft verpflichtetes ökonomisches Fundament. In der Kritik am Manchesterliberalismus geht der Stechlin-Dichter, der sich nunmehr zu ei­nem»veredelten Bebel- und Stöckerthum« bekennt, 117 mit dem Protagonis­ten seines Bekenntnisromans einig. Als Korrektiv zur»schrankenlosen Freiheit« hat deshalb Dubslavs Gesinnung einen zweiten, komplementären Schwerpunkt: die Liebe, die Menschenliebe, die sich in sozialem Verhalten äußert und als sein unausgesprochenes christliches»Bekenntnis« gelten darf(449). Dubslavs von Menschenliebe motiviertes soziales»Tun« wird im Roman auch vor Augen geführt und nicht bloß behauptet in seinem Enga­gement für einen guten Schulunterricht zum Beispiel oder in seinem rüh­renden Bemühen um Anregung, Unterhaltung und Bildung des aufgeweck­ten Proletarierkindes Agnes. Politisch bleibt der alte Major a.D. Dubslav von Stechlin freilich bis zu­letzt seiner konservativen Sicht der Dinge treu. Doch die parteipolitischen Standpunkte der Hauptfiguren werden in Fontanes Altersroman ihrer Ein­seitigkeit entkleidet und einander angenähert. So ist Dubslav zwar nicht »für die patentierte Freiheit der Parteiliberalen, aber«, wie er Graf Barby gegenüber gesteht,»doch für ein bestimmtes Maß von Freiheit überhaupt« (363). Außerdem hat er wie»die richtigen Junker alle«, ohne sich dessen bewusst zu sein, auch»ein Stück Sozialdemokratie« im Leib(244) und äu­ßert sich, durch den fortschreitenden Prozess der Industrialisierung provo­ziert, einmal in beinah sozialdemokratischem Sinn(80). Dem liberalen Gra­fen Barby andererseits, der seine Hoffnungen auf den frühverstorbenen Kaiser Friedrich III. setzte(363), soll trotz seines Liberalismus»noch so was von ›Gottesgnadenschaft‹ in den Knochen« stecken(244). Im politischen Figurenspektrum des Romans ist dem Stechliner Schloss­herrn auch der christlich-soziale Pastor Lorenzen zur Seite gestellt. Trotz ihrer verschiedenen politischen Ansichten sind sich beide, der Landjunker wie der Landgeistliche, in Liebe zugetan, ja der Pastor ist voller Verehrung für seinen kirchlichen»Patron«. Von Woldemar wird Lorenzen, sein ehe­maliger Lehrer und jetziger Freund, als Angehöriger eines neuen Geistes­und Gesinnungsadels eingeführt(183). Mit Pastor Lorenzen fließt wiederum die zeitgeschichtliche Aktualität, wenn auch dichterisch»veredelt«, in ganzer Breite in den»politischen ­Roman« ein. Lorenzens»Ideal« ist Joao de Deus, ein in seiner portugiesi­schen Heimat gefeierter und populärer, inzwischen»aber seit kurzem erst«(185) verstorbener Lyriker, Pädagoge und Philanthrop, der sich für die Volksbildung einsetzte, mit seinem Vermögen die Bedürftigen unter­stützte und arme Kinder unentgeltlich unterrichtete und förderte. In einem