Heft 
(2016) 102
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100 Fontane Blätter 102 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte Nekrolog­im Berliner Magazin für Litteratur wurde deshalb der außerhalb Portugals wenig bekannte Dichter, der am 11. Januar 1896 verstarb,»der portugiesische Pestalozzi des neunzehnten Jahrhunderts« genannt. 118 Auch dies aus aktuellem Anlass: Am 12. Januar 1896 feierte man in halb Europa den 150. Geburtstag Pestalozzis, dessen Grabspruch lautete:»Alles für an­dere, für sich Nichts.« Für Lorenzen war der Philanthrop aus dem äußers­ten Westen Europas, der»herrliche Mann da weit unten am Tajo«(319), zu einem Offenbarungserlebnis geworden. Joao de Deus zählt für ihn zu den großen Vorbildern der Gegenwart, zu denjenigen Menschen, welche, jetzt und hier, in einer entweder religiös indifferent oder dogmatisch-eng ge­wordenen Zeit, aufs Neue ein Beispiel für christliches Sein und Tun geben und um die sich dann in aller Stille ein»geheimer Bund« schließt(319) eine unscheinbare Keimzelle einer anderen Welt.»Unsre ganze Gesellschaft«, erklärt er und in besonderem Maß, wie er präzisiert, die aristokratisch­militärische Oberschicht»ist aufgebaut auf dem Ich. Das ist ihr Fluch, und daran muß sie zu Grunde gehen. Die zehn Gebote, das war der Alte Bund; der neue Bund aber hat ein andres, ein einziges Gebot, und das klingt aus in: ›Und du hättest der Liebe nicht...«.(185) Grundsätzlich bekennt sich Pastor Lorenzen zu der durch Hofprediger Stöcker ins Leben gerufenen»christlich-sozialen Bewegung«(32 f.), einer Bewegung, die, in verschiedenen nationalen Ausprägungen, eine freilich sehr heterogene gesamteuropäische Bewegung war. Aber trotz seines Al­ters(der Stechliner Pastor ist etwa gleich alt wie sein Freund Dubslav) zählt Lorenzen zur neuesten Richtung dieser»Christlich-Sozialen«, zu der sich von Stöckers erzkonservativer und antisemitischer Partei lösenden Grup­pierung der liberalen»Jungen«, ja zu deren freiesten Geistern(53) 119 . Laut Woldemar ist er»beinah Sozialdemokrat«(158). Auch dem alten Stechlin will es scheinen, als sei Lorenzen eigentlich»gar kein richtiger Pastor«(434). In seinem undogmatischen Bergpredigt-Christentum aber lebt der ur­sprüngliche, der urchristliche Impuls weiter. Lorenzen kann deshalb versi­chern, sein neues Christentum sei»gerade das alte«(439).»Praktisches Christentum« tritt an die Stelle des orthodoxen Luthertums mit seinem doktrinären Festhalten am»Apostolikum«. Dazu gehört auch Lorenzens Einstehen für das»Volk«(53), für Demokratisierung und Sozialreform. Es geht ihm darum, eine alle Zeiten übergreifende humane Gesinnung wie diejenige Dubslavs in ein modernes, zwar nicht sozialdemokratisches, aber soziales und demokratisches System überzuführen. 120 In diesem Sinne wird der Pastor zum eigentlichen Sprecher der vom Roman postulierten »Umwertung der Werte«, freilich nicht in öffentlicher Agitation wie ­Stöcker, wohl aber in stillem Wirken von Mensch zu Mensch.»Wohl möglich«, versi­chert er im Gespräch mit Gräfin Melusine,»daß aristokratische Tage mal wiederkehren, vorläufig, wohin wir sehen, stehen wir im Zeichen einer de­mokratischen Weltanschauung. Eine neue Zeit bricht an. Ich glaube, eine