Heft 
(2016) 102
Seite
101
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Fontanes politischer Altersroman Der Stechlin Zuberbühler 101 bessere und eine glücklichere«(324). Wie die junge Gräfin setzt er auf Evo­lution und nicht auf Revolution(316). Dem alten Geburtsadel wird ein Ge­sinnungsadel gegenübergestellt. Die militärisch dominierte und indoktri­nierte preußische Gesellschaft soll zu einer modernen Zivilgesellschaft werden, die von Unternehmertum, Forschergeist und Wissenschaft getra­gen wird(323). Ein demokratischer Staat muss die soziale Mobilität garan­tieren(321). Die Mängel der überlieferten Gesellschafts- und Wirtschafts­ordnung aber bedürfen der»Reparatur«(54). Höher als das Heldenideal der preußischen Armee das kommandierte Heldentum in der Masse steht ein individuelles und ziviles Heldentum, das sich in den Dienst einer eige­nen»Idee« stellt. Die Freiheit des Einzelnen entscheidet(404–408).»Das Heldische hat nicht direkt abgewirtschaftet und wird noch lange nicht ab­gewirtschaftet haben, aber sein Kurs hat nun mal seine besondere Höhe verloren, und anstatt sich in diese Thatsache zu finden, versucht es unser Regime, dem Niedersteigenden eine künstliche Hausse zu geben.«(323) Tatsächlich wirken die»unverbrämten Aussagen« Lorenzens, wie Gerhard­Friedrich festgestellt hat, angesichts der früheren Zurückhal­tung des Romanautors in politischen Fragen»geradezu sensationell.« 121 Lorenzens­liberaler Staat ist ein klares Gegenmodell zur herrschenden hi­erarchischen»Ordnung«, dem preußischen Obrigkeits- und Militärstaat. Mit der Hereinnahme der Joao de Deus-Gestalt und der christlich-sozialen Bewegung in den»politischen Roman« aber erhielt dieser Staatsentwurf ein religiöses Fundament. Freiheit und Liebe, die»schönsten Seiten des Christentums«, 122 sollen in der christlich-sozialen Utopie wieder ins Gleich­gewicht gebracht werden. Das Prinzip»Freiheit« bedarf der Ergänzung durch die christliche Nächstenliebe, der Liberalismus benötigt das Kor­rektiv sozialer Verantwortung. VII Wo aber bleibt in Fontanes»politischem Roman« der Kaiser, der junge ­Hohenzollernherrscher, der sich mit seinen anachronistisch-selbstherrli­chen Reden andauernd in Szene setzte und immer wieder von neuem Kons­ternation auslöste? Nach dem dramatischen Aufruf Wilhelms II.»zum Kampfe für Religion, Sitte und Ordnung« war»Religion« in Preußen zu ei­nem Politikum ersten Ranges geworden. Schon der 1890 gegründete und unter dem Protektorat der jungen Kaiserin stehende Evangelische Kirchen­bau-Verein für Berlin hatte das Wort des ersten Kaisers»Dem Volke soll die Religion erhalten bleiben« zu seinem Leitwort erhoben. Im Rahmen des ambitiösen Kirchenbauprogramms wurde am 1. September 1895, dem 25.  Jahrestag des Sieges über Frankreich in der Schlacht von Sedan, die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche mit großartigem Gepränge eingeweiht das Prestige-Projekt des Vereins, welches von allem Anfang an als»Natio­naldenkmal« konzipiert war. Auch die offizielle Regierungpolitik vollzog