102 Fontane Blätter 102 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte nunmehr eine Frontwendung gegen»Entkirchlichung und Entsittlichung«; »Religion« wurde zum Kampf gegen die Sozialdemokratie instrumentalisiert. Zum Thema»christlich-sozial« aber dekretierte Wilhelm II. kategorisch:»Wer Christ ist, der ist auch ›sozial‹, christlich-sozial ist Unsinn« (53). 123 Infolge der zentralen Stellung, die das Fach»Religion« im»neuesten Kurs« gewann, sollte den jüdischen Lehrerinnen und Lehrern das verfassungsmässige Recht, in den Berliner Gemeindeschulen unterrichten zu können, entzogen werden. 124 Es erstaunt also nicht, dass das Thema»Religion« auch im Stechlin einen breiten Raum einnimmt. Die Repräsentanten der offiziellen Kirchlichkeit werden darin einer kritischen Prüfung unterzogen: die Domina Adelheid von Stechlin mit ihrem orthodoxen, fundamentalistischen, antikatholischen Luthertum; der ehrgeizige Superintendent Koseleger, der»schöne Worte« predigt, aber ein»Halber« ist; Prinzessin Ermyntrud, die den todkranken Dubslav»bekehren« will; Ministerialassessor Rex, der sich durch karrierebewussten kirchlichen Aktionismus hervortut. Grotesk die Haltung der Konventualin Schmargendorf, die selber nie etwas wörtlich behalten kann, aber auf den»Wortlaut« des»Apostolikums« schwört(113 f.) Keineswegs großartig steht es schließlich auch um die vom Kaiser so emphatisch beschworene»Sitte«. Frau Gundermann jedenfalls gesteht im Hinblick auf die Erfahrungen mit ihren»Mamsells« und»Volontärs« mit entwaffnender Offenheit:»Die jungen Menschen passen aber nicht auf, und da hat man´s denn, und immer gleich Knall und Fall«(37). Hauptmann Czako »weiß vom Manöver her, was alles vorkommt«(37). Der Kaiser jedoch scheint in Fontanes Roman weitgehend ausgeklammert zu sein. Dies steht zwar im Einklang mit dem konstitutionellen Grundsatz, dass der Monarch außerhalb der politischen Debatte zu bleiben habe – eine Praxis, die einmal durch eine scheinheilig-korrekte Bemerkung Gundermanns ironisiert wird(229). 125 Andererseits ist man sich in der Öffentlichkeit völlig im Klaren darüber, dass es»nie seit dem Sturz des Fürsten Bismarck eine andere Politik in Preußen oder im Reich gegeben« hat»als die des Kaisers. Zahlreiche Maßregeln hatten nur in dem Willen und Befehl [...] des Monarchen ihren Ursprung.« 126 Freilich gelangt nur ein»Stechlin«Leser, der vertraut ist mit der damaligen Zeitgeschichte, der ferner zwischen den Zeilen zu lesen versteht und sich der Rücksichten bewusst ist, die dem Dichter des Stechlin weniger die diktatorische Zensur als die eigene Loyalität auferlegte, zur Erkenntnis, dass hinter den dargestellten Zeittendenzen überall der Kaiser sichtbar wird. Alle politischen Fluchtlinien des Romans laufen auf ihn zu. Vor allem ist Wilhelm II. in höchst ironischer Weise unausgesprochen präsent in seiner allgegenwärtigen Kampfansage an die Sozialdemokratie, die die Innenpolitik dieser Jahre bestimmt. Sieht man genauer hin, so ist der Kaiser jedoch keineswegs als bloße Hintergrundfigur gegenwärtig. Seine Präsenz gewinnt konkretere Konturen.
Heft
(2016) 102
Seite
102
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