Heft 
(2016) 102
Seite
126
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126 Fontane Blätter 102 Vermischtes Stelle im Roman erinnern: Die Szene spielt im August 1914 und beschreibt einen Vorgang, den man in der christlichen Ikonographie als Annuntiatio, als ein Bild der Verkündigung einordnen würde. Hier ist der Kontext­naturgemäß ein weltlicher: Es kommt wie mehrfach in der Woche ein Briefträger über den See gerudert, vom Westufer, versteht sich, dem tradi­tionellen Hort des Bedrohlichen für das Ostufer. Und er verkündet die fro­he Botschaft, die da lautet:»Mobilmachung is! Endlich!« Es ist schwer, an dieser Stelle nicht an zwei der unglücklichsten Ge­dichtzeilen zu denken, die Hermann Hesse je unterlaufen sind: In dem Ge­dicht Stufen, das Sie gewiss alle kennen, schreibt er:»Und jedem Anfang liegt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben...«. Sie finden diese Zeilen in jedem Poesiealbum von Verliebten. Vielleicht haben Sie, verehrte Zuhörer, diese Zeilen selbst schon einmal bei einer Gelegen­heit verwendet, die Ihnen passend erschien. Dem Großvater des Erzählers beschert dieser Zauber des Anfangs ei­nen Kopfschuss, der ihm den Verstand raubt. Die Größe des Schauspielers Josef Bierbichler liegt bekanntlich darin, dass sein Publikum nie auf den Gedanken kommt, hier agiere ein Schau­spieler. Und dennoch ist es immer eine andere Figur, ein anderes Schick­sal, das Bierbichler auf der Bühne oder im Film verkörpert. Er hat sich von allen Vorbildern, von allen doktrinären Korsettgräten befreit, die Regis­seure oder früher noch die Ausbilder an Schauspielschulen ihren Ele­ven zu verpassen pflegten. Man kann dieses Bild getrost auch auf den Romanautor Bierbichler an­wenden. Große Kunst entsteht eben dann, wenn ein Werk den Begriff der Kunst völlig vergessen lässt. Auf der Bühne wie am Schreibtisch. Im SPIEGEL, einer Zeitschrift, deren Verlautbarungen gerade im Kult­urteil ich stets mit einer gewissen Skepsis begegne, fand ich in einer Re­zension seines Romans die Formulierung, ich zitiere:»Bierbichler hat sich emanzipiert von allen Vorbildern. So wie er beim Schauspielen immer we­niger spielt, so schreibt er beim Schreiben immer weniger Literatur«. Zita­tende! Literatur war hier übrigens mit einem großen und fetten»L« ge­meint. Beim Nachlesen zur Vorbereitung meiner Laudatio stieß ich mit unüblichem Wohlgefallen auf diese Stelle und war dann umso glücklicher, als ich feststellen durfte, dass der Rezensent an dieser Stelle ein Zitat von mir verwendete. Sich Befreien von dramaturgischen oder stilistischen Vorgaben, meine Damen und Herren, das bedeutet naturgemäß überhaupt nicht, dass Bier­bichler vor dem Verfassen dieses Romans, gleichsam als Siegfried, der Lektüre anderer Schriftsteller aus dem Wege gegangen wäre. Ich will jetzt keine Hand dafür ins Feuer legen, ob zu dieser Lektüre auch das Gesamt­werk Fontanes gehört, doch ich darf Ihnen, verehrte Zuhörerinnen und