130 Fontane Blätter 102 Vermischtes So habe ich ungeplant und zufällig Fontanes Geheimnis entdeckt, mit dem er seine Figuren ins Leben zwingt. Durch das Nächstliegende überhaupt: Er lässt sie einfach reden. Die Romane bestehen zum Gutteil aus Dialogen, Monologen und Selbstgesprächen. Das zumindest wusste ich nun. Ich komme aus einer eher schweigsamen Gegend, wo in hügeliger Umgebung und beim Anblick hoher Gebirgszüge am Horizont stumm und lang nachgedacht wird, ehe das Reden einsetzt. Längere Dialoge sind da die Seltenheit. Und Monologe gibt es gar nicht. Höchstens mal als Schimpfkanonade. Und wer mit sich selber redet, begibt sich in Gefahr, als Sonderling aussortiert zu werden. Warum also hatte man für diesen beredten Preis mich ausgewählt? Ich lernte weiter die wenigen Monologe und Dialoge auswendig, die zwar mit Fontane überschrieben waren, aber von mir stammten... und da ist es passiert: Meine Dialoge kamen mir plötzlich wie tote Tiere vor, die es noch nicht zur Versteinerung gebracht haben. Und in den Dialogen des »Anderen« erspürte ich das Leben, das vor ihrer Ablagerung in ihnen gepulst hat und weiter atmete. Und wie unaufgeregt es atmet!... wenn man nach einiger Zeit begriffen hat, dass die Figuren Fontanes keinerlei Spekulationen ihres Schöpfers über ihre Psyche ausgesetzt sind, die aber trotzdem durchsickert in ihren Gesprächen, Monologen und Selbstgesprächen eben, und sich erst heraus bildet in des Lesers und der Leserin eigener Psyche. Beinah wie eine Erbkrankheit, die nicht in jeder Generation ausbricht und trotzdem weiter wirkt. Das Körperliche ist ja immer irgendwie gleich, weil es organisch ist. Das Geistige verändert sich durch ständig variierende Wiederholungen und bleibt sich so letztlich auch immer gleich. In der Kunst aber treibt das Organische das Geistige zu immer neuer Frische. Es dringt durch die Ablagerungen wie durch Poren. Die Versteinerung wird durchlässig – die Form- und der Mensch kann sich einer Erinnerung bemächtigen, deren Ursache lang vor seiner Zeit liegt. So entsteht Seele. Ein seltsamer Vorgang und eigentlich nicht zu erklären. Aber es gibt ihn. Ich habe es begriffen, als ich, unter Preisverleihungs zeit druck stehend, zwei Romane von Fontane gleichzeitig gelesen habe. Ich fühl mich zu einer so – zumindest scheinbar – beschaulichen Beschreibung der Gegenwart, wie Fontane das gelungen ist, nicht in der Lage. Das mag an mangelndem Talent liegen. Dann ist es der öffentlichen Rede nicht wert. Es könnte aber auch sein, dass eine zugewandte Anschauung der Welt gar nicht mehr möglich ist und gefragt werden muss, ob das noch ein Fortschritt ist oder nicht doch schon ein Rückschritt – ein womöglich bedrohlicher. Um das herauszufinden, reichen die Gegenwartsautoren allein nicht aus. Dafür braucht es auch die»Versteinerten«.
Heft
(2016) 102
Seite
130
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