Heft 
(2016) 102
Seite
131
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Dankesrede  Bierbichler 131 Fortschritt darf nicht nur gemessen werden an dem, was errungen oder überwunden worden ist, sondern er muss vor allem auch verrechnet wer­den mit dem, was in den Zeiten verloren gegangen ist. Unermüdliches Erinnern könnte helfen. Aber diese uralte Überlebens­strategie verliert ihre Anziehungskraft. Sie wird immer aggressiver geop­fert dem zunehmend rücksichtsloseren Fortschreiten des Wirtschaftlichen. Der Kampf geht also weiter. Da dieser Kampf nur enden wird mit dem Untergang der Art und deshalb Hoffnung bleibt, bleibt Resignation auch ein gutes Recht der Alten und anderer Todgeweihter: Es ist das selbstge­nommene Recht auf einen friedlichen Tod. Zur Bekräftigung dieser- vielleicht ja nur scheinbar trüben Aussich­ten, erlaube ich mir, mit Hilfe meines erlernten Berufs, statt aus meinem Roman einen kleinen Ausschnitt aus Effi Briest vorzulesen. Gewisserma­ßen um bei meinem Leisten zu bleiben und die Kirche im Dorf zu lassen: in diesem Fall die Neuruppiner Kirche. Lesung: Aufbegehren und Widerruf der Effi Mit dem Widerruf hat Fontane Effi einen friedlichen Tod gewährt. Er hat aber auch einen Rückzieher gemacht. Er hat gewusst, dass er dieser durch­militarisierten protestantischen Männergesellschaft eine dagegen aufbe­gehrende Frau noch nicht zumuten konnte. Aber in Fontanes so genau weil zugewandt skizzierter Gesellschaft schimmert eben auch bereits jene durch, die nur wenige Jahre später den 1. Weltkrieg angezettelt hat, aus dem bald darauf der 2. Weltkrieg die in den Irrsinn gesteigerte Abrundung geworden ist. Und in dieser militärkorporatistisch verfassten Gesellschaft nistet auch schon, noch verpuppt, die Zwiespältigkeit gegenüber der kom­menden nationalsozialistischen Ideologie die dann aber, kurz vor deren Scheitern, gerade noch moralische Legitimation durch ein paar späte Ver­treter im antifaschistischen Widerstand erlangte. Aber erst mit dem Wi­derstand der sog. 68er gegen die Restaurationspolitik der Adenauerzeit hat Effi sich ihrer Fesseln endgültig entledigt. Über diese Zeit von fast 100 Jahren spannt sich der Bogen von Effis Widerruf. Hinter diesen Zustand dürfte eine Gesellschaft nicht mehr zurückfal­len, wenn Entwicklung Fortschritt bedeutet. »Mal gucken was passiert.«(Karl die Große, Musikband aus Neuruppin)