Dankesrede Bierbichler 131 Fortschritt darf nicht nur gemessen werden an dem, was errungen oder überwunden worden ist, sondern er muss vor allem auch verrechnet werden mit dem, was in den Zeiten verloren gegangen ist. Unermüdliches Erinnern könnte helfen. Aber diese uralte Überlebensstrategie verliert ihre Anziehungskraft. Sie wird immer aggressiver geopfert dem zunehmend rücksichtsloseren Fortschreiten des Wirtschaftlichen. Der Kampf geht also weiter. Da dieser Kampf nur enden wird mit dem Untergang der Art und deshalb Hoffnung bleibt, bleibt Resignation auch ein gutes Recht der Alten und anderer Todgeweihter: Es ist das selbstgenommene Recht auf einen friedlichen Tod. Zur Bekräftigung dieser- vielleicht ja nur scheinbar – trüben Aussichten, erlaube ich mir, mit Hilfe meines erlernten Berufs, statt aus meinem Roman einen kleinen Ausschnitt aus Effi Briest vorzulesen. Gewissermaßen um bei meinem Leisten zu bleiben und die Kirche im Dorf zu lassen: in diesem Fall die Neuruppiner Kirche. Lesung: Aufbegehren und Widerruf der Effi Mit dem Widerruf hat Fontane Effi einen friedlichen Tod gewährt. Er hat aber auch einen Rückzieher gemacht. Er hat gewusst, dass er dieser durchmilitarisierten protestantischen Männergesellschaft eine dagegen aufbegehrende Frau noch nicht zumuten konnte. Aber in Fontanes so genau weil zugewandt skizzierter Gesellschaft schimmert eben auch bereits jene durch, die nur wenige Jahre später den 1. Weltkrieg angezettelt hat, aus dem bald darauf der 2. Weltkrieg die in den Irrsinn gesteigerte Abrundung geworden ist. Und in dieser militärkorporatistisch verfassten Gesellschaft nistet auch schon, noch verpuppt, die Zwiespältigkeit gegenüber der kommenden nationalsozialistischen Ideologie – die dann aber, kurz vor deren Scheitern, gerade noch moralische Legitimation durch ein paar späte Vertreter im antifaschistischen Widerstand erlangte. Aber erst mit dem Widerstand der sog. 68er gegen die Restaurationspolitik der Adenauerzeit hat Effi sich ihrer Fesseln endgültig entledigt. Über diese Zeit von fast 100 Jahren spannt sich der Bogen von Effis Widerruf. Hinter diesen Zustand dürfte eine Gesellschaft nicht mehr zurückfallen, wenn Entwicklung Fortschritt bedeutet. »Mal gucken was passiert.«(Karl die Große, Musikband aus Neuruppin)
Heft
(2016) 102
Seite
131
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