152 Fontane Blätter 102 Vermischtes den Arm der Statue stützende Betrachter wie der Schatten, den das Standbild wirft. Auch das Schatten-Motiv wird überall auf dem Bild wiederholt. Die Statue steht im vollen Licht, der Betrachter ist hinter ihr positioniert, in ihrem Schatten, er verkörpert den Schatten, den sie wirft. Aus dem Schatten und als Schatten der Statue wird der Betrachter entwickelt. Der Schatten, den das schöne Standbild wirft, richtet sich gleichsam gegen dasselbe auf. Verhalten sich die Statue und ihr Schatten nicht zueinander wie Kunstwerk und Kritiker? Ist es nicht ein Verhältnis, wie Fontane es empfand, als er Gutzkow, den Literaturpapst seiner Zeit, kritisierte und sich dabei fühlte wie ein Dorfspitz, der den Mond anbellt? 55 Man kann dieses Bild auch als selbstironische Zurücknahme des Spottes über den verunglückten Vers lesen. Der Betrachter tritt ja nicht einmal als Kritiker auf, sondern eigentlich nur als Fragesteller. Läßt sich Kritik bescheidener anbringen? Und ist nicht dieses Blatt, so gesehen, zugleich eine außergewöhnliche Huldigung an ein vollkommenes Kunstwerk, das eben, wie alles von Menschenhand geschaffene, niemals makellos sein kann? Selbst Schadows Plastik wirft einen Schatten! Erinnert Menzel mit seinem Blatt an dieses Urgebrechen aller künstlerischen Bestrebung? Und wenn noch ein Dritter hinzukommt, ein wirklicher Betrachter, der diese gemalte Betrachtung betrachtet? Muss er nicht Bedauern empfinden über diese die Schönheit des Kunstwerkes störende zudringliche Annäherung des kritischen»Interessenten«? Muss er nicht diesen dunklen Fleck als Fehler an dem sonst so schönen Bild empfinden und ihn verwünschen, ihn fortwünschen? Muss er nicht dazu gelangen, dass es ein Fehler ist, einen Fehler derartig herauszustellen? Es lassen sich allerhand allgemeine Wahrheiten über Kunst und Kunstkritik ableiten. Was Menzels Albumblatt nicht bietet, was es verweigert, was weder der Künstler Adolph Menzel noch der Tunnel-Freund Rubens auf das Papier zu bringen vermochten, nicht wollten noch konnten, war eine konventionelle Consolatio, eine verbindliche Versicherung, ein sentimentales Freundschaftsv ersprechen. Keine persönliche Vertrautheit w ird hier proklamiert, kein emotionales Band geschlungen, das War und Werde miteinander verknüpfend, kein roter Faden ins Beziehungsgeflecht gewebt, kein gemeinsames Ideal beschworen für alle Zukunft. Seine Eigentümlichkeit hebt das Blatt zugleich heraus aus der unüberschaubaren Menge der Gattung. Geistiger Austausch a uf Augenhöhe, das war das Angebot Menzels an Fontane. Künstlerischer Konnex, nicht Herzenseinklang. Menzel versprach keine gewöhnliche Freundschaft. In aller Ehrlichkeit. Er erfüllte die Gattung Albumblatt, indem er sie negierte. Und er negierte sie, indem er sie erfüllte.
Heft
(2016) 102
Seite
152
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