Heft 
(2015) 100
Seite
17
Einzelbild herunterladen

»Das war ich?« Der deutsche Michel  Sagarra 17 In den unmittelbar darauf folgenden Jahren bis zum Herbst 1849 entsteht in Deutschland bzw. in den metropolen Zentren in engster Zusammenar­beit zwischen Schriftstellern und Graphikern das, was Oesterle»ein die Zensur foppendes Text-Bild Interfärenzspiel« nennt, das »die satirisch-parodistisch-travestierende Allusionstechnik auf die Spitze treibt und das vielleicht zu einem der eigentümlichsten und reiz­vollsten deutschen Beiträge zur literarisch-visuellen Öffentlichkeit ge­hört«. 24 Oesterle exempliziert seine These am Beispiel eines virtuosen Texts, geschrieben von Ludwig Büchners Freund Wilhelm Schulz und illustriert vom Schweizer Martin Distelli zusammen mit dessen höchst satirischer Nachrede zur Vermeidung übler Nachrede. Wie bei vielen radikalen Erzeug­nissen der zeitgenössischen Satirik erschien Die wahrhaftige Ge­schichte vom deutschen Michel und seinen Schwestern. Nach bisher unbe­kannten Quellen und durch sechs Bilder von M. Disteli erläutert in Zürich/ Winterthur. Der schlafende, erwachende und dann zwangsweise wieder einge­schläferte Michel beherrscht die satirische Graphik und Dichtung der vier­ziger Jahre. Wie schwer es zunächst war, den Trägen zu erwecken, erklärt Heine: Er habe müssen »politische Annalen herausgeben, Zeitinteressen vortragen, revoluzio­näre Wünsche anzetteln, die Leidenschaften anstacheln, den armen Michel beständig zupfen, daß er aus seinem gesunden Riesenschlaf erwache.[...] Freilich, ich konnte dadurch bei dem schnarchenden Giganten nur ein sanftes Niesen, keineswegs aber ein Erwachen bewirken.« Warum vergeblich? Weil Michel, so der Autor, doch Sohn des Volkes der Dichter und Denker bleibt: »Einst wollte ich aus Verzweifelung seine Nachtmütze in Brand stecken, aber sie war so feucht von Gedankenschweiß, daß sie nur gelinde rauchte [...] und Michel lächelte im Schlummer.« 25 Heine markiert hiermit eine Wandlung in Michels Größe und Gestalt: Er ist jetzt nicht mehr klein und schmächtig, sondern ›schlafender Riese‹. Und tatsächlich bietet eine in zahlreichen Variationen reproduzierte Karikatur der vierziger Jahre den deutschen Michel als Riesen. Als der radikale Verle­ger Julius Springer die fast täglich neuerscheinenden Erzeugnisse der Ber­liner Druckmedien im Schaufenster seiner 1842 gegründeten Sortiments­buchhandlung auszustellen begann, wurde dieses zu einem Magneten für schau- und sensationslustige Berliner und bald auch für die Polizei. 26 Plastisch beschrieb die Szene der Junghegelianer und Freund von Karl Marx Karl Friedrich Köppen in einer vielfach nachgedruckten Polemik. Die erstmals in Marx  Rheinischen Zeitung für Politik, Handel und Gewerbe  er­schienene Schrift 27 thematisierte eine der ikonographisch interessantesten­­Arbeiten der sonst eher zur Tagesproduktion zu rechnenden­Graphik der